Immer der Nase nach zum Victoriasee – Möwen navigieren anhand von Gerüchen

Ohne ihren Geruchssinn können Heringsmöwen Abweichungen von ihrem natürlichen Flugkorridor nicht ausgleichen

24. November 2015

Zugvögeln macht in punkto Navigation kaum jemand etwas vor. Sie legen auf ihren Flügen zigtausende Kilometer zurück und erreichen ihr Ziel mit großer Präzision. Wie sie das machen, ist bis heute nicht restlos geklärt. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und der Universität Konstanz haben nun zusammen mit russischen und finnischen Forschern sowie Kollegen vom Wilhelmshavener Institut für Vogelforschung einen weiteren Beleg dafür geliefert, dass manche Vögel auch den Geruchssinn zur Navigation nutzen. Die Wissenschaftler haben Heringsmöwen aus dem Grenzgebiet zwischen Russland und Finnland mittels GPS-Sendern verfolgt und entdeckt, dass die Möwen ihren Geruchssinn brauchen, um ihren Zugkorridor und ihr Überwinterungsgebiet in Afrika zu finden. Entgegen der weit verbreiteten Annahme benutzen Vögel zur Bestimmung ihrer Position nicht das Erdmagnetfeld.

Um von Kontinent zu Kontinent zu gelangen, müssen Vögel navigieren und zunächst die Frage beantworten:  „Wo bin ich“. Dann müssen sie sich orientieren: „Ich fliege jetzt in eine bestimmte Richtung“. Für diese beiden Aufgaben benutzen sie möglicherweise unterschiedliche Sinne.  Zur Richtungsfindung setzen viele Arten einen Magnetkompass ein, den sie anhand des Sonnenuntergangwinkels eichen, denn die Sonne geht immer etwa im Westen unter. Ob das Magnetfeld der Erde auch eine genaue Ortsbestimmung zulässt, ist noch strittig.

Darüber hinaus folgen die Jungvögel vieler Arten den Alttieren auf ihrem ersten Zug und prägen sich dabei Wegmarken wie Küsten, Berge oder Flüsse ein, an denen sie sich künftig orientieren. Seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise darauf, dass Vögel zudem ihren Geruchssinn zur Positionsbestimmung nutzen. Die Untersuchung des internationalen Forscherteams zeigen nun erstmals entlang der gesamten Zugstrecke eines Zugvogels, dass manche Vögel auf ihrem Zug nach Süden ihrer Nase folgen.

Heringsmöwen sind Langstreckenflieger

Möwen zählen nicht unbedingt zu den bekannten Zugvögeln. Manche Möwenarten legen aber weite Strecken zurück, im Falle der Heringsmöwen (Larus fuscus fuscus) 7500 Kilometer. Heringsmöwen aus Russland und Finnland fliegen im Spätsommer und Herbst in einem engen Korridor über das westliche Schwarze Meer und das Nildelta im Mittelmeer bis zum Victoriasee in Ostafrika. Sie verbringen dort den Winter und fliegen zum Brüten wieder in den Norden.

Die Forscher verfolgten die Reise von knapp 120 Heringsmöwen von Finnland und der zu Russland gehörenden Solovki-Inseln mithilfe von GPS-Sendern auf dem Rücken der Vögel. Die 30 Gramm leichten, solarbetriebenen Sender übermittelten bis zu sechsmal täglich ihre Positionsdaten mit einer Genauigkeit von 30 Metern an einen Forschungssatelliten.

Die Forscher wollten wissen, ob Heringsmöwen auch ohne ihren Geruchs- und Magnetsinn von einem ihnen unbekannten Startpunkt aus zum Victoriasee finden. Sie durchtrennten deshalb bei einem Teil der Vögel unter Narkose die Geruchsnerven, bei einem anderen Teil den Trigeminusnerv, der angeblich für die Wahrnehmung des Erdmagnetfelds erforderlich ist. Die Nerven wachsen nach wenigen Monaten wieder zusammen, sodass die Navigationsfähigkeit der Tiere nicht dauerhaft beeinträchtigt ist. Sie finden in den darauffolgenden Jahren immer wieder in ihre Brutgebiete zurück.

Die in Finnland gefangenen Vögel transportierten die Wissenschaftler per Flugzeug 1250 Kilometer Richtung Südwesten auf die Insel Helgoland und ließen sie dort frei. Die Vögel aus Solovki starteten aus der 1260 Kilometer südöstlich gelegenen Stadt Kasan an der Wolga. „Unsere Annahme war, dass beide Startpunkte außerhalb des normalen Flugkorridors der Möwen liegen und die Vögel dadurch eine unbekannte Route nehmen müssen“, sagt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie und Leiter der Studie. So können die Forscher herausfinden, welche Sinnesleistungen zur Navigation eingesetzt werden.

Gerüche weisen den Weg

Die Flugdaten zeigen, dass die Heringsmöwen auch von Helgoland aus zum Victoriasee finden. Dafür brauchen sie jedoch ihren Geruchssinn: Möwen mit durchtrenntem Geruchsnerven beendeten ihre Reise zu weit westlich in Zentralafrika. „Ohne ihre Nase merken sie offenbar nicht, dass sie weiter westlich als üblich gestartet sind. Während die unbehandelten Vögel diesen Versatz durch einen zeitweise nach Osten gerichteten Flug kompensieren, können dies die Tiere ohne Geruchssinn nicht“, erklärt Wikelski. Informationen über das Erdmagnetfeld nutzen Heringsmöwen dagegen nicht zur Navigation: Auch mit durchtrenntem Trigeminusnerv fanden sie ihr Ziel ebenso sicher wie die unbehandelten Artgenossen.

Eine Analyse der Flugroute ergab, dass die versetzen Möwen ihre Flugrichtung immer dann nach Osten ausrichteten, wenn ihr Geruchssinn funktionierte und sie „eine Nase voll Duft“ von Orten aus ihrer Zugroute bekamen. Sie nutzten also nicht prägnante Wegmarken wie beispielsweise die afrikanische Mittelmeerküste, um ihren Flug neu auszurichten. Welchen Gerüchen die Vögel dabei folgten, wissen die Forscher noch nicht. Klar ist nur: „Die Gerüche müssen mindestens 300 Kilometer weit durch die Luft übertragen werden. Einzelne Geruchsposten auf der Route wie das Schwarze Meer oder das Nildelta geben wohl die grobe Flugrichtung vor“, erklärt Wikelski. 

Zur Verwunderung der Wissenschaftler fanden alle Vögel von Kasan aus das Ziel – auch ohne ihren Geruchssinn. Im Unterschied zu den von Helgoland gestarteten Möwen änderten hier auch die Tiere mit durchtrennten Geruchsnerven ihre Flugrichtung entsprechend. „Unsere Daten zeigen, dass Kasan gar nicht außerhalb des natürlichen Flugkorridors der Heringsmöwen liegt, wie wir dachten, sondern innerhalb. Die Vögel kannten deshalb die Route und orientierten sich an vertrauten Punkten der Landschaft ohne ihren Geruchssinn“, sagt Wikelski.

Heringsmöwen benötigen also ihre Nase zur Navigation, ihr Magnetsinn und Informationen von Artgenossen scheinen dagegen keine oder nur eine geringe Rolle zu spielen. „Dass sich die Möwen auf ihren Geruchssinn verlassen, war für uns eine große Überraschung. Zwar vermutet man aufgrund theoretischer Navigationsmodelle schon länger, dass sich die Navigationsleistungen vieler Zugvögel und Meeressäuger nur durch den Geruch erklären lassen. Trotzdem war diese These bis vor kurzem höchst umstritten“, sagt Wikelski. Welche Rolle das Erdmagnetfeld und andere Navigationssysteme wie die Sterne für die Navigation beim Vogelzug spielen, ist noch weitgehend unklar.

HR/BA

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