Migration
Die Ursachen und Konsequenzen menschlicher Mobilität und deren Geschichte sind zentrale Themen für die Forschung
Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen UNHCR waren Ende 2019 fast 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr als 270 Millionen lebten laut der Internationalen Organisation für Migration außerhalb des Landes, in dem sie ursprünglich geboren wurden; das sind 3,5 Prozent der Weltbevölkerung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben es sich zum Ziel gesetzt, hinter diese Zahlen zu blicken.
Gründe für Migration
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts befasst sich die Forschung mit den Ursachen für Migration. In der Regel wird zwischen Push- und Pullfaktoren unterschieden: Schlechte Lebensbedingungen wie Armut, Krieg, Unterdrückung oder Naturkatastrophen bewegen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Auf der anderen Seite wirken reale oder vermeintlich günstige Verhältnisse anziehend auf Migranten, beispielsweise die Aussicht auf bezahlte Arbeit, Rechtssicherheit, funktionierende Gesundheits- und Bildungssysteme sowie bereits im Zielland lebende Communities aus dem eigenen Herkunftsland.
Forschende in den Max-Planck-Instituten nehmen darauf aufbauend neue Faktoren für Migration in den Blick, etwa den Klimawandel, der voraussichtlich eine zunehmende Rolle als Treiber für Auswanderung spielen wird. Darüber hinaus entwickeln sie auch neue Analysemethoden: So nutzt ein Forschungsteam um Emilio Zagheni vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung Daten aus Sozialen Medien, um Migrationsbewegungen etwa nach Naturkatastrophen schnell und präzise zu erfassen.
Einwanderung bringt Veränderung
Demografen erfassen, wie Migration die Bevölkerungsstruktur in Einwanderungsländern verändert. Denn die Zugewanderten sind in der Regel jünger und gesünder als die Durchschnittbevölkerung in den Zielländern; die Zahl der Geburten kann durch Migration ebenso beeinflusst werden wie die Lebenserwartung. Eine spannende Frage für die Forschenden ist darüber hinaus, wie schnell und stark sich Migranten an die Gegebenheiten im Land anpassen.
Eine wichtige Erkenntnis ist, dass es „die Migrantin“ oder „den Migranten“ so nicht gibt. Stattdessen findet sich gerade in Großstädten wie Frankfurt, London oder Vancouver unter den Zugewanderten eine große Vielfalt an Herkunftsländern, Religionen, Kulturen und sozialen Hintergründen. Steven Vertovec vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften hat für dieses Phänomen den Begriff „Superdiversität“ geprägt und daraus Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet.
Die wachsende Vielfalt in der Gesellschaft bringt auch für die Justiz neue Herausforderungen. Normen ändern sich und neue Normen kommen zu den bestehenden hinzu. Die Rechtswissenschaften sprechen von normativer Pluralität. Welche Konsequenzen daraus für die Justiz folgen, ist ein Thema in der Abteilung Recht und Ethnologie von Marie-Claire Foblets am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung.
Politischer Umgang mit Migration
Aus politischer Sicht ist Migration ein heikles Thema, bei dem zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen sind. In der Regel sind hochqualifizierte Einwanderer von allen politischen Lagern und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung erwünscht. Die Aufnahme von Flüchtlingen wird teils kritischer gesehen. Allerdings haben sich in der Genfer Flüchtlingskonvention 147 Staaten dazu verpflichtet, Menschen Schutz zu gewähren, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung in ihrem Heimatland verfolgt werden. In Deutschland ist das Recht auf Asyl zudem im Grundgesetz verankert und auch die EU hat Richtlinien zum Umgang mit Schutzsuchenden erlassen. Vor diesem Hintergrund analysieren Juristinnen und Juristen in mehreren Max-Planck-Instituten die rechtliche Situation von Migranten.
In letzter Zeit ist in vielen Ländern eine Tendenz zur Abschottung zu beobachten. Die Orte, an denen die Einreise in ein Land geregelt wird, befinden zunehmend außerhalb der eigentlichen Landesgrenzen – so die Analyse von Ayelet Shachar vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Die Corona-Pandemie hat diese Tendenz noch einmal verstärkt.
Die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat Deutschland und Europa vor immense Herausforderungen gestellt. Forschende aus mehreren Max-Planck-Instituten haben untersucht, wie Politik und Verwaltung die Krise bewältigt haben.
Von juristischer Seite wurde deutlich, dass geltende Regeln in Europa nicht immer eingehalten werden: so im Krisenjahr bei der Umsetzung der EU-Richtlinien zur Aufnahme Asylsuchender oder im Frühjahr 2020 an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Dagegen haben deutsche Kommunen großteils ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt, wie eine Studie am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften ergab.
Wissenschaftlerinnen des Instituts haben aber auch nach den Bedürfnissen der Flüchtlinge in dieser Situation gefragt. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie haben sich Forschende zudem mit der psychischen Gesundheit der Geflüchteten befasst und Hilfsangebote ausgearbeitet.
Zugehörigkeit und Abgrenzung
Migration ist ein emotionales Thema, für die Migranten selbst ebenso wie für die Menschen in den Aufnahmeländern. Der Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ von Ute Frevert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beschäftigt sich mit der Rolle, die Gefühle bei der Formierung politischer Einheiten, insbesondere der „Nation“, und bei der Etablierung von Zugehörigkeiten spielen.
Integration und Exklusion sind dabei zwei Seiten der gleichen Medaille. Den Abschottungstendenzen in abgelegen Regionen der Alpen geht eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung nach.
Migration in der Geschichte der Menschheit
Afrika war die Wiege der Menschheit, doch schon in der menschlichen Frühgeschichte finden sich Spuren von Wanderungsbewegungen. So ist eine Frage der Forschung, auf welchen Wegen sich Homo sapiens von Afrika aus verbreitet hat. Dabei waren die modernen Menschen noch nicht einmal die ersten Migranten: In Europa und Asien hatten sich bereits der Neandertaler und der Denisova-Mensch ausgebreitet. Spuren ihrer Gene finden sich bis heute im Erbgut vieler Europäer und Asiaten. Grundlegende Beiträge zu dieser Forschung stammen aus den Max-Planck-Instituten für evolutionäre Anthropologie und für Menschheitsgeschichte. Die Forschenden der beiden Institute untersuchen auch, die Besiedelung Europas, die in drei großen Wellen erfolgte.
Außerdem versuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachzuvollziehen, wann und wie Menschen auf den amerikanischen Kontinent eingewandert sind, ebenso wie Wanderungsbewegungen in Asien, Australien und Ozeanien. Ein weiteres Thema in diesem Kontext ist der Einfluss, den Menschen schon vor Zehntausenden von Jahren auf Ökosysteme ausübten, indem sie sich dort niederließen.