Lesen lernen in der Schule
Wissenschaftler erforschen Leseverhalten von Kindern und Erwachsenen - ihre Erkenntnisse sollen in bessere Lernmethoden münden
Wissenschaftler am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchen in einem Projekt der Studie DeveL (Development Lexicon Project), wie Wörter von Menschen unterschiedlichen Alters gelesen werden. Die Spanne reicht dabei vom Erstklässler bis zum Siebzigjährigen. Bisher haben Studien lediglich Kinder mit jungen Erwachsenen oder junge Erwachsene mit alten verglichen. Forscher haben aber noch nie Kinder und ältere Menschen zusammen untersucht.
Haus ist ein häufiges Wort, dem viele Wörter ähneln. „Raus, Laus, Maus“, zählt Sascha Schroeder einige Beispiele auf. „Wenn ich einen Buchstaben austausche, finden sich viele so genannte Nachbarschaften.“ Viel weniger oft kommt dagegen beispielsweise „Assel“ vor. „Erwachsene, die ein seltenes Wort sehen, haben aber schon viel mehr gelesen, gelebt und sich unterhalten als Kinder. Deshalb wird ein seltenes Wort von Personen mit mehr Erfahrung besser erkannt.“
Dabei konzentrieren sich die Forscher auf drei verschiedene Merkmale eines Wortes: seine Länge, die Häufigkeit, mit der es in der Sprache vorkommt, und drittens, wie ähnlich es anderen Wörtern ist. Sie haben herausgefunden, dass sowohl Länge und Frequenz im Laufe der Lebensspanne weniger dafür genutzt werden, ein Wort zu lesen. „Die Effekte nehmen kontinuierlich ab“, fasst der Psychologe, Linguist und Musikwissenschaftler zusammen. „Denn je häufiger ein Wort in der Sprache vorkommt, desto schneller erkennen wir es mit zunehmendem Alter beim Lesen wieder.“
Problem Leseschwäche
Das ist ein wichtiges Teilergebnis einer Reihe fachübergreifender Studien von Schroeder und seinen Mitarbeitern der Forschungsgruppe REaD (Reading Education and Development – Schriftspracherwerb und Leseentwicklung). Als das Team vor mehr als vier Jahren seine Arbeit begonnen hat, hatte es eine dramatische Ausgangslage im Blick: Jeder fünfte Erwachsene in Deutschland kann einfache Texte nicht verstehen, und das quer durch alle Schichten. Wer die Kulturtechnik nicht beherrscht, kann gesellschaftlich und politisch nicht partizipieren. Schroeder: „In unserer modernen Informationsgesellschaft geraten Menschen mit geringen Lesefähigkeiten ins Abseits. Sie finden auch oft keinen Zugang zur Arbeitswelt. Wir können nicht einfach so weitermachen, wir müssen früh, nachhaltig und erfolgreich etwas gegen dieses Riesenproblem unternehmen.“
Leseförderprogramme fruchten nach Erkenntnis des Forschungsgruppenleiters auch deshalb oft nur unzureichend, „weil die Prozesse, auf denen das Lesen beruht, für die deutsche Sprache anders als etwa für Englisch immer noch viel zu wenig erforscht sind“. Das ist die Grundidee von REaD: „Wir treten einen Schritt zurück und gucken uns die kognitive Mechanik hinter dem Lesen an, bevor es nachher in der konkreten Leseförderung besser laufen kann. Nur neue Erkenntnisse schaffen da auch neue Perspektiven, um Menschen mit Leseproblemen effektiv unterstützen zu können.“
Kernfrage dabei ist es natürlich, wie Kinder, von denen jetzt nach den Sommerferien viele zum Schulstart die Welt der Buchstaben erobern, das Lesen erlernen. Welche Teilprozesse sind beim Schriftspracherwerb relevant? Wie wichtig sind verbale Fähigkeiten beim Transfer vom gesprochenen Laut zum geschriebenen Buchstaben? Schroeder: „Schrift ist geronnene Sprache. Lesen ist die Entnahme von sprachlichen aus visuellen Informationen.“ Das flüchtige gesprochene Wort in das räumlich organisierte geschriebene Wort zu überführen, „das gehört zu den komplexesten kulturhistorischen Leistungen“.
ERIC soll Lernmethoden verbessern
Ein besonders groß angelegtes Projekt der Gruppe ist ERIC (Effects of Reading Instruction on Cognitive Processes), bei dem das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und das ebenfalls in Berlin ansässige Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen eine interdisziplinäre Kooperation bilden. Die computergestützte Studie in 60 Schulklassen in mehreren Bundesländern untersucht seit mehr als einem Jahr, welche kognitiven Teilprozesse des Lesens besonders wichtig sind und potenziell von Lehrkräften gefördert werden können. „Wir untersuchen aber nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer, integrieren also kognitive Leseforschung und Lehrmethoden-Forschung“, erläutert Simon Tiffin-Richards, der ERIC als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts maßgeblich betreut. Der Fokus richte sich auf Lerngelegenheiten im Leseunterricht der Primarstufe und darauf, wie didaktische Methoden den Erwerb der Lesekompetenz unterstützen.
Tiffin-Richards nennt vier Hauptziele von ERIC: „Zunächst untersuchen wir die relevanten kognitive Teilprozesse des Lesens, wie z.B. den Wortschatz der Kinder und wie gut sie Zusammenhänge zwischen Sätze verstehen.“ Der Fokus der zweiten Teilfrage richtet sich auf Lehrkräfte aus. Wie diagnostizieren sie die Lernprozesse, wie schätzen sie Wortschatz und Textverständnis ihrer Grundschüler ein? Drittens richtet sich die Aufmerksamkeit der Forscher darauf, wie Lehrer ihren Deutschunterricht gestalten. Der letzte Punkt verbindet alle Aspekte hin zu der Frage, „welche Maßnamen im Deutschunterricht besonders fördernd auf die kognitiven Prozesse wirken, die für das Lesenlernen in der vierten Klasse wichtig sind“.
Während Gruppen von jeweils fünfzehn Kindern der beteiligten Grundschulen verschiedene Leseaufgaben und Leistungstests an Laptops bearbeiteten, wurden Lehrer begleitend zu Unterricht, Konzepten, Materialien und dazu befragt, wie sie Wortschatz, Leseverständnis und -geschwindigkeit ihrer Schüler einschätzten. Dazu verfassten sie auch Protokolle und Tagebücher. „Letztlich ist das eine grundlegende Dokumentation des Deutschunterrichts, die bislang nicht systematisch erfasst wurde“, sagt Tiffin-Richards. Diese soll dazu dienen, ein Bild der Lerngelegenheiten der Kinder zu gewinnen.
Worte erkennen und verstehen
Die Hauptuntersuchung ist im Sommer zum Beginn der Sommerferien abgeschlossen worden. Aus den ersten Ergebnissen stechen zwei zentrale Befunde hervor: In der vierten Klasse sind Unterschiede im Leseverstehen und in der Rechtschreibung auf unterschiedlich effiziente Prozesse der Wortidentifikation zurück zu führen. Die Effizienz der Prozesse der Wortidentifikation wurden wiederum maßgeblich von Wortkenntnissen und Leseerfahrung beeinflusst.
Die zweite wichtige Erkenntnis bezieht sich auf verschiedene Teilprozesse der Wortidentifikation. So schneiden Viertklässler gut dabei ab, die Laute von Wörtern zu erkennen. Schwierigkeiten hätten sie hingegen bei der Rechtschreibung und dabei, orthografische Fehler auszumachen: „Deutsch ist relativ regelmäßig zu lesen, aber es ist schwierig, es korrekt zu schreiben. Wal gibt es mit und ohne ,h’, aber die Wahl ist kein Meeressäuger.“
PM/HR