Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Globales Tierrecht
Tierrecht: Aktuelle Trends
Tiere waren immer schon explizit oder implizit Regelungsgegenstand des Rechts. Sie sind in viele Lebensbereiche eingebunden − als Produktionsfaktor, Nahrung, Einkommensquelle, als „Schädling“ oder Krankheitsüberträger, als berufliches oder therapeutisches Hilfsmittel oder als Freizeitvergnügen. Darum werden sie durch zahlreiche Rechtsvorschriften im Lebensmittel- und Verbraucherschutzrecht, Wirtschafts- und Handelsrecht, Schuld- und Sachenrecht, Polizei- und Ordnungsrecht und Strafrecht berührt. Tiere werden regelmäßig als Verfügungsgegenstand, als Regulierungsobjekt oder Tatbestandsmerkmal in den Blick genommen.
Das Recht wendet sich dem Tier zunehmend auch unmittelbar schützend zu. Tierschutz durch Recht hat in europäischen Gesellschaften einen hohen Stellenwert, was sich unter anderem an den regelmäßig aufflammenden Debatten zu Tierversuchen, zur Massentierhaltung oder jüngst zur Massentötung von männlichen Eintagsküken ablesen lässt.
Gegenwärtig ist das europäische tierbezogene Recht von drei Trends gekennzeichnet: Erstens hat eine Konstitutionalisierung von Tieranliegen durch die Annahme von Verfassungsvorschriften stattgefunden. Hiermit wird der Tierschutz aufgewertet und insbesondere in Deutschland eine Annäherung an andere Verfassungsgüter wie Forschungs- und Religionsfreiheit erreicht. Zweitens ist eine zivilrechtliche „Ent-Sachlichung“ von Tieren zu verzeichnen, mit der die tradierte römischrechtliche Gleichsetzung von Tier und Sachen aufgehoben wird. Drittens findet in der EU eine Supranationalisierung des tierbezogenen Rechts aufgrund der mitgliedstaatlichen Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen an die Europäische Union in den Bereichen Landwirtschaft und Fischerei, Handel, Umwelt und Verbraucherschutz statt. Die EU wird hier selbst zum maßgeblichen Rechtsetzer – zum Beispiel mit der Angleichung des europäischen Tierversuchsrechts durch die Richtlinie 2010/63/EU.
Schließlich ist der in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausgerufene „animal turn“ relevant, in dem das Tier als Akteur und Subjekt, als „Anderer“ oder Unterdrückter wahrgenommen wird. Dabei werden überkommene Grundannahmen zur Rolle und zum Status von Tieren in der Gesellschaft hinterfragt.
Angesichts dieser Trends ist eine Weiterentwicklung von Tierrecht als Rechtskorpus und als wissenschaftliche Disziplin in Richtung einer tiefer und weiter greifenden Tierrechtswissenschaft (legal animal studies) zeitgemäß. Diese Forschungsagenda basiert auf einem Verständnis von Rechtswissenschaft als gesellschaftsbezogene Wissenschaft, die auf aktuelle Anliegen reagieren, angesichts von Fehlentwicklungen juristisch gegensteuern und zur Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände beitragen soll.
Globales Tierrecht als Antwort auf ein globalisiertes Problem
Die wissenschaftliche Befassung mit Tierrecht kann nicht auf die Sphäre des Nationalstaats, des nationalen Rechts, der nationalen Politik oder Wirtschaft begrenzt bleiben. Denn nahezu alle Aspekte gängiger Mensch-Tier-Interaktionen (von der Nahrungsmittelerzeugung und -verteilung über Arbeitstiere, Versuchstiere bis hin zur Züchtung und Haltung von Haustieren) weisen heutzutage eine grenzüberschreitende Dimension auf. Diese Globalisierung des Problems hat mehrere Ursachen:
Ein erster Grund ist die gesteigerte Verbraucheraufmerksamkeit. Das Kaufverhalten bei Tierprodukten wird zunehmend von Tierschutzaspekten beeinflusst. Die sensibilisierte Öffentlichkeit in industrialisierten Ländern erwartet, dass sich auch die Rechtsetzung daran ausrichtet. Der daraus erwachsende politische Druck betrifft nicht nur die nationale Gesetzgebung, sondern berührt auch die Regelung des Imports von Tierprodukten. Beispielsweise wird das europäische Importverbot für Seehundprodukte von der EU mit der Empörung der europäischen Bevölkerung über die Robbenjagd begründet.
Zweitens sind die Tierindustrie und der Handel mit Tieren und Tierprodukten großenteils transnational. So werden Agrartiere für Zucht, Aufzucht und Schlachtung regelmäßig in verschiedene Länder transportiert. Auch Versuchstiere werden oft grenzüberschreitend zugeliefert, insbesondere bei Primaten auf dem Luftweg aus Afrika und Asien. Wenn ein einzelner Staat die Tierschutzstandards erhöhen möchte, beispielsweise für Tiertransporte, Schlachtungen oder Tierversuche, kann er dies nicht wirksam einseitig tun, da die betroffenen Industriezweige den strengeren Regelungen ausweichen können, indem sie abwandern. So scheiterte jüngst ein vom deutschen Bundesrat vorgeschlagenes Verbot der Tötung von männlichen Eintagsküken. Die Bundesregierung lehnte ein solches Verbot mit der Begründung ab, dass die Geflügelzucht dadurch lediglich ins Ausland verlagert würde. Bereits die Angst vor der Abwanderung wirkt als Reformbremse.
Ferner sind Tiere in komplexe Problemfelder eingebunden, die ihrerseits globaler Natur sind. Die Industrialisierung der Tierproduktion hat massive ökologische, klimatische, gesellschaftliche und ethische Konsequenzen im globalen Maßstab. Sie trägt zu Artensterben, Armut und Fehlernährung sowie zum Klimawandel bei. Der illegale globale Handel mit Wildtierprodukten ist insbesondere in Afrika mit bewaffneten Konflikten verquickt und trägt zur Finanzierung von Kriegen und dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in einigen afrikanischen Staaten bei.
Die globale Natur des Problems erfordert eine die staatliche Gesetzgebung ergänzende globale Regulierung – ein globales Tierrecht. Globales Recht ist ein Regelungsmix, der sich über mehrere Ebenen des Regierens erstreckt und verschiedene Normtypen umfasst. Es entsteht aus der Internationalisierung des nationalen Rechts in Verbindung mit einer Nationalisierung des internationalen Rechts, parallel zu einer teilweisen Privatisierung und Deformalisierung.
Der Bestand an globalen tierbezogenen Normen hat eine kritische Masse erreicht, die seine zusammenfassende Etikettierung als eigenes Rechtsgebiet oder als Querschnittsmaterie namens „globales Tierrecht“ rechtfertigt und gleichzeitig ermöglicht, sich mit diesem Rechtsgebiet rechtswissenschaftlich zu befassen. Mit dem Etikett „global“ und der darin liegenden Konzeptionsleistung können die Eigenarten des neuen Tierrechts – gleichzeitig auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene – prägnant erfasst und damit gut analysiert werden.
Globale Tierrechtswissenschaft
Was kann und soll eine Wissenschaft vom globalen Tierrecht leisten? Es geht um die Schaffung konzeptioneller Grundlagen und um Beiträge zur praktischen Entwicklung des Felds durch die Bereitstellung passender Rechtsargumente und Rechtsbegriffe. Zur Forschungsagenda gehört auch, Rechtslücken zu identifizieren und Rechtsreformen anzuregen. Zu diesem Zweck müssen die auf allen Regulierungsebenen verstreuten internationalen Vorschriften zunächst identifiziert, systematisch dargestellt und analysiert, ferner müssen internationale und europäische Rechtsstreitigkeiten sowie einschlägige Reformprojekte kritisch kommentiert werden. Schließlich untersucht diese Forschung die praktische Notwendigkeit, die ethische Rechtfertigung und politischen Chancen einer Konsolidierung und Stärkung des Korpus spezifisch völkerrechtlicher Tiervorschriften.
Der rechtliche Schutz von Tieren, ihr Rechtsstatus und mögliche Rechte hängen letztlich von menschlichen Einstellungen zum Tier ab. Diese werden durch Gewohnheiten und Tradition, Religion, den Wohlstand einer Gesellschaft, ihren Industrialisierungsgrad und sonstige kulturelle Faktoren beeinflusst. Die globale Tierrechtsforschung muss sich darum ausdrücklich ein Sensorium für Eurozentrismus, Rechtsimperialismus und Nord-Süd-Gefälle bewahren. Sie darf nicht naiv europäische Wertvorstellungen exportieren, sondern muss einen überlappenden Konsens suchen und transnational vermittelbare (universalisierbare) Argumente stärken und weiterentwickeln.
Die Forschungsagenda ist also sowohl deskriptiv-analytisch-konzeptionell als auch von einem rechtspolitischen Impetus getrieben. Die Kombination von Untersuchungen des positiven Rechts mit einer normativen Kritik und Reformvorschlägen ist typisch für die Rechtswissenschaft. Insbesondere im Völkerrecht sind die idealtypisch zu unterscheidende positive und normative Forschung in Wirklichkeit schwer zu trennen: Hier sind Normgenese und Normanwendung beziehungsweise -nichtanwendung stark politisch und teilweise moralisch aufgeladen. Für Rechtszweige wie Menschenrechte oder das Tierrecht, die stark kulturell und moralisch imprägniert sind, gilt dies in besonderem Maße. Dies ist hinzunehmen, solange sich der Forscher die idealtypische Unterscheidung immer wieder vergegenwärtigt, wohl wissend, dass es keine „wertfreie Wissenschaft“ gibt.
Literaturhinweise
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