Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Multimessenger-Astronomie und numerische Relativitätstheorie
Vier Jahre ist die erste Messung von Gravitationswellen inzwischen her – am 14. September 2015 registrierten die LIGO-Messgeräte in den USA ein Zittern der Raumzeit. Sie empfingen ein Signal von zwei verschmelzenden schwarzen Löchern aus den Tiefen des Weltalls. Für diese Entdeckung wurde 2017 der Nobelpreis für Physik verliehen. Inzwischen wurden weitere Signale von schwarzen Löchern und auch von verschmelzenden Neutronensternen [1] gemessen.
Das Verschmelzen von Doppelsternen, bestehend aus zwei Neutronensternen oder einem Neutronenstern und einem schwarzen Loch, gehört zu den interessantesten Beobachtungszielen der Multimessenger-Astrophysik (Abbildung 1). Aber erst seit jüngster Zeit liegen dazu Beobachtungsergebnisse vor [1], und daher ist der Ablauf dieser Ereignisse noch nicht gut verstanden. Dabei bietet die Beobachtung von Neutronensternkollisionen eine einzigartige Chance, seit langem offene Fragen der Physik über die genaue Zusammensetzung von Neutronensternen oder zur Entstehung schwerer Elemente wie Gold oder Uran zu beantworten.
Diese schweren Elemente entstehen vermutlich, wenn Atomkerne von leichteren Elementen wie Eisen Neutronen einfangen (r-Prozess der Nukleosynthese). Damit dieser Prozess ablaufen kann, ist eine extrem neutronenreiche Umgebung erforderlich, wie sie nur im Rahmen der relativistischen Astrophysik auftritt. Wir wissen jedoch noch nicht, welches astrophysikalische Phänomen die Hauptquelle dieses Prozesses ist. Das Verschmelzen von Neutronenstern-Doppelsystemen ist der vielversprechendste Kandidat für die Synthese schwerer Elemente, da bei diesen Vorgängen eine sehr neutronenreiche Umgebung entsteht. Während des Verschmelzens wird ein Teil der Materie explosionsartig aus dem System in den interstellaren Raum ausgestoßen, darin entstehen dann schwere Elemente.
Die dabei als erstes entstehenden Elemente sind sehr neutronenreich und radioaktiv. Bei ihrem Zerfall wird Energie frei, welche die ausgestoßene Materie aufheizt. Deswegen leuchtet das Gas, was wir mit Teleskopen beobachten können. Wenn wir also die Kollision solcher Doppelsterne mit Gravitationswellendetektoren und mit Teleskopen im elektromagnetischen Bereich beobachten, können wir überprüfen, ob die Nukleosynthese tatsächlich während des Verschmelzungsvorgangs stattfindet.
Numerische Relativitätstheorie
Um die Beobachtungsergebnisse zu verstehen, brauchen wir ein zuverlässiges theoretisches Modell für diese extremen astrophysikalischen Ereignisse. Dafür müssen wir Einsteins Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie zusammen mit den zugehörigen Materiegleichungen (der Hydrodynamik und des Strahlungstransfers) lösen. Diese Gleichungen beschreiben die Entwicklung der Neutronensternmaterie und die Neutrinoemission. Sie sind hochgradig nichtlinear, multidimensional und sehr kompliziert. Wir können sie daher nur mit umfangreichen, numerisch-relativistischen Simulationen exakt lösen [2].
Grundsätzlich kann direkt nach der Verschmelzung abhängig von der Gesamtmasse des Systems entweder ein schwarzes Loch oder ein massereicher Neutronenstern entstehen. Ein wichtiges Ergebnis der numerischen Relativitätstheorie ist, dass der Grenzwert dafür bei etwa 2,8 Sonnenmassen liegt. Unterhalb dieses Werts entsteht ein massereicher Neutronenstern, bei höheren Massen ein schwarzes Loch. Die numerische Relativitätstheorie zeigt darüber hinaus, wie sich ein Teil der Materie typischerweise in einer Scheibe um das zentrale Objekt sammelt.
Die numerischen Berechnungen geben auch Aufschluss über die Entwicklung der Materie, die aus dem System herausgeschleudert wird. Sie zeigen, dass es zwei Hauptmechanismen für den Massenausstoß gibt: Binnen 10 Millisekunden nach der Kollision der beiden Körper wird direkt aus diesem Vorgang heraus Materie ausgestoßen, ist die Materiescheibe entstanden, so wird auch von ihr aus für 0,1 bis 1 Sekunde Materie ins All geschleudert (Abbildung 2). Mit numerischer Relativitätstheorie können wir die Verschmelzungs- und Massenausstoßprozesse genau berechnen und darüber hinaus das elektromagnetische Signal und die entstehenden Gravitationswellen exakt vorhersagen.
Im August 2017 wurde mit den Detektoren erstmals eine Gravitationswelle von verschmelzenden Neutronensternen nachgewiesen [1]. Dieses Ereignis erhielt die Bezeichnung GW170817 und ließ sich in fast allen Wellenlängenbereichen elektromagnetischer Strahlung nachweisen. GW170817 gilt damit als Beginn der Multimessenger-Astronomie. Für die Interpretation der Beobachtungsergebnisse spielt die theoretische Vorhersage eine wichtige Rolle.
Numerisch-relativistische Vorhersagen treffen auf reale Beobachtungen
Bei GW170817 war die Gesamtmasse des Doppelsterns etwas kleiner als der Grenzwert von 2,8 Sonnenmassen. Nach Vorhersage der numerischen Relativitätstheorie entstand also ein massereicher Neutronenstern, umgeben von einer Scheibe, aus der Materie herausgeschleudert wurde [4]. Um die Leuchtkraft und das Spektrum der dabei abgestrahlten elektromagnetischen Wellen zu erklären, führten wir mit Kollegen eine Simulation der Strahlungsübertragung durch und verglichen sie mit den Beobachtungsergebnissen [5]. So konnten wir Masse und Zusammensetzung der ausgeworfenen Materie ermitteln. Dabei ergeben sich starke Hinweise auf einen erheblichen Anteil schwerer Elemente und damit auf Nukleosynthese während des Verschmelzens von Neutronensternen.
GW170817 ist das bislang einzige Ereignis, das mit Multimessenger-Astronomie untersucht wurde. Die Datenlage ist also noch dünn. Doch mit zunehmender Empfindlichkeit der Gravitationswellendetektoren werden wir mehr verschmelzende Doppelneutronensterne beobachten. Und so wird die Kooperation von Gravitationswellenphysik, Astronomie im elektromagnetischen Bereich und numerischer Relativitätstheorie die lange ungelöste Frage der Nukleosynthese in naher Zukunft beantworten können.