Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin
Wie Stammzellen tatsächlich pluripotent gemacht werden können
Einleitung
Die Arbeit von Shinya Yamanaka hat die Stammzellforschung revolutioniert, indem sie zeigte, dass Körperzellen, wie zum Beispiel Hautfibroblasten, in induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) umgewandelt werden können. Vier Transkriptionsfaktoren (TF) – Oct4, Sox2, Klf4 und cMyc (OSKM) – wurden künstlich überexprimiert, um Körperzellen zurück in einen embryonalen Stammzellzustand zu versetzen, aus dem Zellen jedes beliebigen Körpergewebes entstehen können [1].
Seit der Einführung der iPS-Technologie galt Oct4 als unerlässlicher Faktor für die Reprogrammierung von Körperzellen zurück zur Pluripotenz. Oct4 war der einzige TF im Reprogrammierungscocktail, der weder weggelassen noch durch andere Mitglieder seiner TF-Familie ersetzt werden konnte. Sein Fehlen führte folglich zum Scheitern der Erzeugung von iPS-Zellen.
SKM reicht für die Umwandlung somatischer Mauszellen in pluripotente Zellen aus
Die vorliegende Studie wurde durch die überraschende Beobachtung ausgelöst, dass eine TF-Kassette auch ohne Oct4 iPS-Zellen generieren konnte (d. h. SKM; Abb. 1A; [1]). Dabei stellte sich heraus, dass der gesamte Satz von Transkriptionsfaktoren, OSKM, somatische Mauszellen zwar etwa dreimal effizienter und um zwei Tage schneller als SKM umwandeln konnte, aber zu unserer großen Überraschung erhielten wir auch mit SKM eine Vielzahl von Kolonien. Dagegen gab es keine oder nur sehr wenige Kolonien, wenn einer der anderen drei Faktoren weggelassen wurde. Das Weglassen von Klf4 hatte besonders dramatische Folgen: hier blieb keine einzige Kolonie erhalten. Im Gegensatz zu dem langjährigen Dogma, wonach Oct4 für die Umwandlung von entscheidender Bedeutung sei, zeigte sich, dass das Weglassen von Oct4 die Umwandlung am wenigsten beeinträchtigte.
SKM-iPS-Zellen weisen ein deutlich höheres Entwicklungspotenzial auf
Als nächstes evaluierten wir das Entwicklungspotenzial von SKM- und OSKM-iPS-Zellen, indem wir den stringentesten Test für pluripotente Zellen durchführten - die tetraploide Komplementierungsanalyse (Abb. 1B). In diesem Verfahren werden pluripotente Zellen mit tetraploiden Embryonen vereint, die selber zwar extraembryonales Gewebe bilden können, aber keinen funktionsfähigen Embryonalknoten (aus dem sich dann der Fötus entwickelt). Aus diesen Aggregaten entwickeln sich daher Mäuse, die ausschließlich aus iPS-Zellen bestehen.
Mit dieser Analyse haben wir früher veröffentlichte Berichte bestätigt, die darauf hindeuteten, dass herkömmliche OSKM-iPS-Zellen im Vergleich zu embryonalen Stammzellen ein relativ schlechtes Entwicklungspotenzial aufweisen. Rund die Hälfte der OSKM-iPS-Zelllinien war überhaupt nicht in der Lage, Mäuse rein aus iPS-Zellen auszubilden. Darüber hinaus wiesen die wenigen Mäusejungen, die aus OSKM-Linien generiert wurden, drastisch reduzierte Überlebensraten auf. Die Pluripotenz der meisten OSKM-iPS-Zellen war offenbar stark beeinträchtigt. Man schloss daraus, dass solche Zellen für die klinische Anwendung der iPS-Technologie nicht perfekt geeignet sind. Dagegen sind sämtliche bisher getesteten SKM-iPS-Zelllinien in der Lage, Mäuse rein aus iPS-Zellen zu generieren, und diese überlebten völlig gesund sogar bis ins Erwachsenenstadium (Abb. 1, C und D ), während die OSKM-iPS-erzeugten Mäuse häufig schon während ihrer Entwicklung im Mutterleib versterben und nur selten das Erwachsenenalter erreichen (Abb. 1 D). Zusammengefasst zeigen unsere Befunde, dass der SKM-Cocktail iPS-Zellen mit einem außerordentlichen Entwicklungspotenzial generiert, das etwa 20-fach höher als das Potenzial von OSKM ist und somit nicht von dem embryonaler Stammzellen unterscheidbar.
Das Weglassen von Oct4 im Cocktail führt zu einer originalgetreueren epigenetischen Reprogrammierung
Die Gen-Expressionsanalyse zeigte, dass OSKM-induzierte Zellen nicht direkt in pluripotente Zellen umgewandelt werden, sondern einen Umweg nehmen (Abb. 2, OSKM, blauer Pfad): Die OSKM-Induktion – nicht aber die SKM-Induktion – führt dabei zu einer beachtlichen Erhöhung der Expression von Genen, die im Zusammenhang mit der Bildung von Hautzellen stehen. Um zu ermitteln, ob Oct4 einen direkten Einfluss auf diese Gene hat, wurde die sogenannte ChIP-SeqAnalyse durchgeführt. Diese Analyse ermöglicht es, die Bindungsstellen von Transkriptionsfaktoren auf der DNA zu ermitteln. Aus einem Abgleich mit ChIP-Seq-Datensätzen ging hervor, dass Oct4, wenn es in Fibroblasten überexprimiert wird, direkt auf viele der Gene abzielt, die während der Umwandlung durch OSKM fehlreguliert werden, und dass diese Auswirkung durch Weglassen von Oct4 im Cocktail verhindert werden kann. Ohne Oct4 nehmen somit die Zellen den direkten Weg zur Pluripotenz (Abb. 2, SKM, roter Pfad).
In früheren Arbeiten wurden OSKM-iPS-Zellen mit embryonalen Stammzellen verglichen, mit dem Ergebnis, dass iPS-Zellen aufgrund unterschiedlicher, durch das Verfahren verursachte epigenetischer Aberrationen ein verschlechtertes Entwicklungspotenzial aufwiesen. Unter diesen Abweichungen ist der Verlust an Methylierung der Eltern-spezifischen genomischen oder „Imprinting“-Loci die häufigste. In der Tat konnten wir bei vielen OSKM-iPS-Zellen epigenetische Aberrationen feststellen, darunter auch den Verlust von „Imprinting“, während die SKM-iPS-Zellen normale epigenetische Markierungen beibehielten.
Oct4 wird routinemäßig für die Erzeugung von iPS-Zellen eingesetzt, die für die Forschung zu einem entscheidend wichtigen Instrument geworden und in jüngster Zeit sogar für klinische Versuche als Zellquelle für regenerative Therapien verwendet worden sind. Es wird angenommen, dass die Rolle von Oct4 in Säugetieren konserviert ist. Wir führten unsere Arbeit mit Zellen der Maus als zugänglichem Modell für die Umwandlung von Zellen durch, weshalb die Frage, ob Oct4 ähnliche nachteilige Auswirkungen auch in menschlichen Zellen hat, zunächst unbeantwortet bleibt. Die Konsequenzen dieser Forschung könnten enorm sein, da epigenetische Abweichungen wie zum Beispiel der Verlust des „Imprinting“ Krebs verursachen können. Die weitere Erforschung der molekularen Abläufe während der Reprogrammierung menschlicher Zellen wird zeigen, ob eine Verbesserung der Umwandlungsstrategien notwendig ist.