Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Denisovaner waren erste Menschenform im Hochland von Tibet

Autoren
Hublin, Jean-Jacques
Abteilungen
Abteilung für Humanevolution, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Zusammenfassung
Bisher waren die Denisovaner nur durch einige wenige Fossilfragmente aus der Denisova-Höhle in Sibirien bekannt. Gemeinsam mit Forschenden aus China beschreibt Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig einen 160.000 Jahre alten frühmenschlichen Unterkiefer aus Xiahe in China. Durch die Analyse alter Proteine fanden die Forschenden heraus, dass dessen Besitzer einer Population angehörte, die während des Mittleren Pleistozäns im Hochland von Tibet lebte und eng mit den Denisovanern aus Sibirien verwandt war.

Im Juli 2016 erhielt ich eine E-Mail von einem Kollegen aus China, der mich um meine Meinung zu einem fossilen Unterkiefer bat. Dieser war im Hochland von Tibet nahe der Stadt Xiahe entdeckt worden und unterschied sich stark von dem eines anatomisch modernen Menschen. Sechs Wochen später empfing ich in meiner Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die chinesische Archäologin Dongju Zhang. Wir unterhielten uns über den Fund und vereinbarten, ihm seine Geheimnisse gemeinsam zu entlocken. Kurz darauf flog ich also nach Lanzhou, in die Provinz Gansou, um mir das Fossil selbst anzusehen.

Nach einigen Monaten detaillierter Untersuchungen kamen wir zu dem Ergebnis, dass der Unterkiefer denisovanischen Ursprungs war. Die Denisovaner, eine Menschenform, die zuerst in Südsibirien entdeckt wurde, kannten wir bisher lediglich aus der Denisova-Höhle. Mithilfe des Xiahe-Kiefers und einer neuen molekularen Untersuchungsmethode können wir und andere Forschende nun damit beginnen, in Asien weitere Denisovanerfossilien zu identifizieren.

Unterkiefer aus der Baishiya-Karsthöhle

Bei den Denisovanern handelt es sich um eine Gruppe früher Homininen, die vor etwa 50.000 Jahren verschwanden. Ihre Entdeckung war eine Sensation. Im Jahre 2007 identifizierte ein Forschungsteam unter der Leitung von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Neandertaler-DNA aus fossilen Knochen, die aus der Okladnikov-Höhle in der Altai-Region in Südsibirien stammten. Diese Entdeckung spornte zahlreiche Forschende dazu an, in ganz Sibirien nach weiteren Belegen von Neandertaler-DNA zu suchen. Diese Bemühungen führten sie schließlich auch zur Denisova-Höhle, wo ebenfalls Knochenfragmente entdeckt worden waren, die alte DNA enthielten. Sorgfältige Analysen dieser Fragmente ergaben etwas Spektakuläres: Das Erbgut aus der Denisova-Höhle stammte nicht von einem Neandertaler, sondern von „etwas anderem“.

Dieses „etwas andere“ entpuppte sich als eine Schwestergruppe der Neandertaler, die sich vor fast einer halben Million Jahren von diesen abgespalten hatte. Nach der Fundhöhle Denisovaner oder Denisova-Menschen genannt, fasziniert diese Menschenform seither die Wissenschaft. Bei den bis zu diesem Zeitpunkt in der Denisova-Höhle entdeckten Fossilien handelte es sich allerdings um winzige Knochenfragmente, von deren Beschaffenheit wir nicht auf die Anatomie der Denisovaner schließen konnten.

Lange vor der Entdeckung und Identifizierung der Denisovaner wurde der Xiahe-Unterkiefer von einem buddhistischen Mönch gefunden, der im Jahr 1980 zum Beten und Meditieren die Baishiya-Karsthöhle in Xiahe besuchte. Doch erst 2010 konnte ein Forschungsteam unter der Leitung des Geologen Fahu Chen mit Untersuchungen des Baishiya-Karstgebiets und Umgebung beginnen. Es ist leider nicht überliefert, wo genau in der Höhle der Unterkiefer gefunden wurde. Doch Karbonatablagerungen auf dem Fossil konnten mithilfe der Isotopenchemie auf ein Alter von etwa 160.000 Jahren datiert werden. Der Unterkiefer ist damit 120.000 Jahre älter als alle uns bis dahin bekannten archäologischen Spuren von Menschen in der Region. Die Fundstätte liegt auf einer Höhe von 3.300 Metern. Niemand vermochte sich vorzustellen, dass sich archaische Homininen im Quartär während einer Kaltphase an diese Umgebung angepasst haben könnten.

Fossil anhand von uralten Proteinen identifiziert

Denisova-Erbgut hatte man bisher nur in Fossilien aus der Denisova-Höhle nachgewiesen. Da es nur sehr wenige Anhaltspunkte auf die Anatomie der Denisovaner gab, konnten wir sie auch nicht mit anderen Fossilien vergleichen und in Verbindung bringen. Mit dem Xiahe-Kiefer ist diese Schwierigkeit nun überwindbar. Eine neue Untersuchungstechnik, die mein ehemaliger Promovierender Frido Welker entwickelt hat, ermöglichte es uns, die Beziehungen verschiedener Homininengruppen zu kartieren – anhand uralter erhalten gebliebener Proteine. Zwar enthielt der Xiahe-Kiefer keine DNA mehr, doch seinen Zähnen konnten wir Proteine entnehmen, die wir mithilfe der neuen Methode analysierten. So fanden wir heraus, dass das chinesische Fossil denselben Zweig im Stammbaum des Menschen belegt wie die Exemplare aus der Denisova-Höhle. Erstmals können wir nun auch sehen, wie die Denisovaner ausgesehen haben. Der Xiahe-Kiefer erinnert an andere Hominine der gleichen Zeitperiode, die in Eurasien lebten, hat aber auch mehrere eigentümliche Merkmale. Indem wir die Analysen alter Eiweißstrukturen und morphologischer Eigenschaften des Fossils miteinander kombinieren, können wir nun die chinesische Fossiliensammlung mit neuen Augen betrachten und weitere alte Funde – auch ohne DNA-Beleg – als den Denisovanern zugehörig identifizieren. So verhielt es sich dann auch: Einige chinesische Fossilien, die vor langer Zeit entdeckt wurden, gehören höchstwahrscheinlich ebenfalls zur Gruppe der Denisovaner, was deren weite geographische Ausbreitung über Asien bestätigt.

Dass es sich bei der Baishiya-Karsthöhle um ein buddhistisches Heiligtum handelt, behinderte zunächst die Studien im Höhleninneren. Doch im Jahre 2016 durfte Zhang dort mit Ausgrabungsarbeiten beginnen. Ihr Team hat seitdem eine große Anzahl von Steinwerkzeugen und Tierknochen mit Einkerbungen entdeckt. Diese Artefakte werden zweifellos wertvolle Informationen darüber liefern, wie die Denisovaner im Hochland von Tibet gelebt und sich an die Umwelt angepasst haben.

Anpassung an den sauerstoffarmen Lebensraum

Außerdem konnten wir damit belegen, dass archaische Homininen wie die Denisovaner erfolgreich im Hochgebirge überlebt haben – 120.000 Jahre bevor der moderne Homo sapiens das Hochland von Tibet besiedelte. Das erklärt auch die Existenz einer Genvariante im Erbgut der Denisovaner, mithilfe derer sie sich an die höhenbedingt sauerstoffarme Umgebung angepasst haben. Irgendwann wurde dieses Gen durch Vermischung der Denisovaner mit den modernen Neuankömmlingen an die späteren Bewohner des Hochlands von Tibet weitergegeben.

Die Erforschung der menschlichen Evolution in Asien geht nun in eine neue Phase. Sie ist in diesem Teil der Welt viel komplexer als bisher angenommen: Das vereinfachte Modell einer regionalen und direkten Evolution von Homo erectus hin zu heute lebenden Asiaten muss nun aufgegeben werden. Und aus der Baishiya-Karsthöhle werden sicherlich noch zahlreiche Entdeckungen folgen.

Literaturhinweis

Chen, F.; Welker, F.; Shen, C.-C.; Bailey, S. E.; Bergmann, I.; Davis, S.; Xia, H.; Wang, H.; Fischer, R.; Freidline, S. E.; Yu, T.-L.; Skinner, M. M.; Stelzer, S.; Dong, G.; Fu, Q.; Dong, G.; Wang, J.; Zhang, D.; Hublin, J.-J.
A late Middle Pleistocene Denisovan mandible from the Tibetan Plateau
Nature 569 (7756), 409–412 (2019)

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