Die Philosophin des Urpralls
Die mythische Vorstellung von einem zyklischen All, das im Weltenbrand endet und wiederersteht, fasziniert Menschen seit jeher. Die moderne Urknalltheorie mit einem ewig expandierenden Universum schließt diese Möglichkeit aus. Doch ist hier das letzte Wort bereits gesprochen? Am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover geht Anna Ijjas dieser fundamentalen Frage nach.
Text: Thomas Bührke
Der Kirchenlehrer Augustinus fragte sich schon vor mehr als 1600 Jahren, was Gott vor der Erschaffung der Welt getan haben mag. Seine Antwort war so einfach wie überraschend: „Bevor Gott Himmel und Erde schuf, tat er nichts.“ Das passt gar nicht einmal so schlecht zur Urknalltheorie, mit der Kosmologen den Beginn des Universums beschreiben. Vor dem Big Bang gab es nichts, weder Raum noch Zeit. Mit den heutigen physikalischen Kenntnissen lassen sich sämtliche Vorgänge in dem heißen Feuerball beschreiben, die sich ab etwa einer milliardstel Sekunde nach dem Urknall ereignet haben. Doch was davor geschah, das entzieht sich unserer Kenntnis. Und der Urknall selbst? Eine „Singularität“, in der die beiden Säulen der modernen Physik – Relativitätstheorie und Quantentheorie – versagen.
Was aber, wenn es gar keinen Urknall gab? Könnte unser Universum nicht aus einem Vorläufer hervorgegangen sein? Das ist ein altes kosmologisches Modell, dem Anna Ijjas am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Hannover neues Leben einhaucht.
Man muss schon gut zu Fuß sein, wenn man der quirligen Forscherin durch die Gänge des Instituts bis zu ihrem Büro folgen will. Das ist noch karg eingerichtet, ein Laptop auf dem Tisch, viel mehr nicht. Der Hausmeister schaut zwischendurch vorbei, um etwas zu kontrollieren. Anna Ijjas ist erst seit Anfang September 2019 in Hannover. Sie gehört zu den ersten neun Leiterinnen einer Lise-Meitner-Exzellenzgruppe, welche die Max-Planck-Gesellschaft ins Leben gerufen hat. Gegen fast 300 Kandidatinnen aus 42 Ländern hat sie sich durchgesetzt.
Mit dem Lise-Meitner-Programm will die Max- Planck-Gesellschaft nicht nur die Frauenquote steigern, sondern ganz gezielt zukünftige Max-Planck-Direktorinnen suchen. Spätestens nach fünf Jahren wird ihnen die Teilnahme an einem sogenannten Tenure-Track-Verfahren für eine W2-Professur garantiert, bei positiver Evaluation erhalten sie die W2-Position sowie die Leitung der Forschungsgruppe unbefristet. Das Auswahlverfahren war hart, und die letztendliche Entscheidung für Anna Ijjas offenbart auch Einblicke in die heutige Situation der Grundlagenforschung. Die Wissenschaftlerin war zuvor mehrere Jahre an der Universität von Princeton. „In den USA ist Forschung sehr konservativ“, erzählt sie. Junge Nachwuchswissenschaftler folgen dort oftmals den ausgetretenen Pfaden. Ijjas rechnet es dem Auswahlkomitee des Lise-Meitner- Exzellenzprogramms hoch an, dass es mit ihr bewusst eine Kandidatin ausgewählt hat, die eher unkonventionell daherkommt.
Dabei schien doch auf dem Gebiet der Kosmologie – also der Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung des Weltalls – bereits vieles geklärt. „In den 1970er- bis 1990er-Jahren haben die Theoretiker sehr große Fortschritte gemacht“, erzählt Anna Ijjas. Mit der Stringtheorie schien man eine umfassende Beschreibung sämtlicher Naturkräfte gefunden zu haben. Und die Hypothese des inflationären Universums versprach alle Probleme, welche die damalige Urknalltheorie noch in sich barg, zu lösen.
Die Inflation (von inflatio für Aufblähen) ist heute fester Bestandteil der Kosmologie. Sie beschreibt eine extrem schnelle Expansion des Alls unmittelbar nach dessen Geburt. Nach dieser Phase setzte sich die weitere Ausdehnung etwa mit der noch heute herrschenden Geschwindigkeit fort. „Nicht wenige Theoretiker sind mittlerweile davon überzeugt, dass wir den großen Antworten schon sehr nahe sind und nur noch ein paar Details klären müssen“, sagt Ijjas. Sie selbst sieht das ganz anders! Zum einen wissen wir über 95 Prozent des Universums so gut wie nichts: Dunkle Materie und Dunkle Energie sind große Geheimnisse. Die Stringtheorie vermag immer noch keine konkreten Vorhersagen zu treffen, die sich durch astronomische Beobachtungen oder physikalische Experimente prüfen lassen. Und die Theorie der Inflation hat so viele dehnbare Parameter, dass man sie an fast alle Beobachtungen anpassen kann. „Andrei Linde, einer ihrer Begründer, pflegt zu sagen, es werde nie ein Beobachtungsergebnis geben, mit dem sich die Inflationstheorie widerlegen lasse“, sagt Ijjas. „Es wäre Größenwahn zu behaupten, wir wüssten schon fast alles. Im Gegenteil – wir brauchen einen Umbruch.“
Der Weg zu dieser Einsicht war lang und verlief für die Forscherin keineswegs geradlinig. In ihren Wünschen war sie aber immer zielstrebig. Anna Ijjas kam 1985 in einem kleinen Dorf in Ungarn zur Welt. Ihr Vater war Arzt und kannte einen Deutschen, der Privatunterricht gab. So begann Anna schon mit fünf Jahren die deutsche Sprache zu lernen. Während ihrer Schulzeit in Budapest ging sie im Rahmen eines Schüleraustauschs für zwei Monate nach Bayern. Nach dem Abitur war ihr klar, dass sie nicht in Ungarn studieren wollte. Dem Wunsch der Eltern nach einem Jurastudium mochte sie auch nicht folgen. Stattdessen schrieb sie sich in München an der Ludwig- Maximilians-Universität für Mathematik und Religion mit dem Ziel Lehramt ein. Später kam auch Physik dazu.
Nach dem Staatsexamen wandte Ijjas sich intensiver den Naturwissenschaften zu und promovierte in Philosophie mit einer Arbeit, deren Titel an ein Bonmot Einsteins angelehnt ist: „Der Alte mit dem Würfel: Metaphysik in der Quantenmechanik“. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie sei möglich und sinnvoll, schreibt sie in ihrer Arbeit. Anfangs hatte sie versucht, beide Bereiche zusammenzubringen, vor allem in Gesprächen mit Freunden. Heute sieht sie darin zwei Sichtweisen, die wenig miteinander zu tun haben: „Naturwissenschaften und Glauben schließen sich nicht aus“, sagt sie. „Ich habe aber keinen naiven Glauben.“
Zu dieser Zeit wusste sie nicht, ob sie gut genug für die physikalische Forschung war. Doch dann ermutigte sie ihr Mentor Harald Lesch. Mit einem Stipendium versehen, ging sie in die USA und suchte sich dort gezielt zwei Wissenschaftler als Mentoren aus, die für ihre kreativen Ideen bekannt sind. Einer von ihnen, Paul Steinhardt, hatte maßgeblich zur Entwicklung der Inflationstheorie beigetragen. Im Jahr 2002 überraschte Steinhardt seine Kollegen mit einer Alternative, die ein zyklisches Universum annimmt. Dieses ekpyrotische Universum vermeidet einen Urknall aus dem Nichts ohne Raum und Zeit. Mit dem Begriff „Ekpyrosis“, zu Deutsch etwa „Weltenbrand“, erinnerte Steinhardt an alte Mythen vom Ende der Welt in einem feurigen Untergang und dem neuerlichen Erstehen aus der Asche.
Die Inflationstheorie benötigt sehr spezielle Anfangsbedingungen
Seitdem haben sich bei Anna Ijjas die Zweifel an der Inflationstheorie verstärkt. Die hat ihrer Meinung nach zwei entscheidende Schwächen: Zum einen benötigt sie sehr spezielle Anfangsbedingungen; zum anderen führt die Theorie zu der Behauptung, dass unendlich viele Universen mit je unterschiedlichen Eigenschaften entstehen. In einem davon leben wir.
„Was mich daran stört, ist, dass wir dann nicht erklären können, woher die Eigenschaften kommen“, sagt die Max-Planck-Forscherin. Alles ist möglich, und die Physik kann nicht einmal vorhersagen, was wahrscheinlich ist. Diese Beliebigkeit mag Ijjas nicht akzeptieren. Ihr Anspruch an die Physik ist ein anderer: „Ich will wissen, warum die Welt so ist, wie sie ist.“ Damit folgt sie Albert Einsteins hintergründiger Frage: Hatte Gott eine Wahl, als er die Welt erschuf?
Mit Problemen der Inflationstheorie hat sich Ijjas in ihrer zweiten Dissertation beschäftigt und darin am Schluss eine neue Klasse zyklischer Modelle untersucht. „Diese benötigen weniger Feinabstimmung“, resümiert sie in ihrer Arbeit. Und sie umgeht noch ein anderes ungelöstes Problem der Urknalltheorie. Die Entstehung des Alls aus einer Quantenfluktuation lässt sich mit den der Wissenschaft heute bekannten Gesetzen der Physik nicht beschreiben. Denn sowohl die Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie versagen bei diesem Zustand. Um diesem Dilemma zu entgehen, suchen die meisten Theoretiker aus diesem Grund nach einer Vereinigung der beiden Theorien: einer Quantengravitation. Doch alle Versuche dieses mittlerweile 40 Jahre andauernden Unterfangens sind bisher fehlgeschlagen – inklusive Stringtheorie. Daher probieren die Forscher heute unterschiedliche Modelle aus. „Eine Quantengravitation ist zwar für einige Probleme der Physik unerlässlich“, sagt Anna Ijjas, „aber unser Ansatz des zyklischen Universums benötigt sie nicht.“
In allen zyklischen Modellen ging unsere Welt aus einem Übergangsstadium hervor: Ein vorheriges Universum hatte sich langsam zusammengezogen und wieder ausgedehnt. Der Urknall war dann ein Urprall oder, wie die Kosmologen auf Englisch sagen: Big Bounce anstelle von Big Bang. „In diesem Moment waren Raum und Zeit in einem Zustand, der sich mit den uns bekannten Gesetzen noch erfassen lässt“, sagt Ijjas. „Um den Urprall zu beschreiben, brauchen wir nur die Einführung einer neuartigen Wechselwirkung zwischen Materie und Raumzeit.“
In den vergangenen drei Jahren konnte die Kosmologin neue, wichtige Ergebnisse vorweisen. In einer ihrer Berechnungen zog sich das Vorgängeruniversum im Urprall bis auf 10-25 Zentimeter zusammen. Das ist nur ein Billionstel des Protonendurchmessers – und lässt sich dennoch mit der heutigen Physik beschreiben. Dieses Modell erklärt auch alle Probleme der ursprünglichen Urknalltheorie, für deren Lösung die Inflation eingeführt wurde. Das Urprallszenario von Anna Ijjas und ihren Kollegen kommt ganz ohne diese Hypothese aus. Gleichzeitig bezieht es die Dunkle Energie mit ein, womit speziell Stringtheoretiker große Probleme haben. So gesehen, hat das zyklische Universum viele Vorteile. Aber: Beschreibt es die Realität? Und wie können wir das feststellen?
Im Rahmen ihrer ersten Doktorarbeit war Ijjas zu der Erkenntnis gekommen, dass viele Physiker mehr ihren persönlichen Präferenzen und ihrer Weltanschauung folgen, als sie sich selbst eingestehen würden. Die schon von Einstein beschworene Intuition spielt eine große Rolle. „Das trifft auch auf mich zu“, gesteht sie. „Dennoch müssen wir am Ende empirisch eine Entscheidung treffen können, ob eine Theorie falsch oder richtig ist.“ Hier hält es die Wissenschaftlerin mit Karl Popper. Nach dessen Erkenntnisphilosophie lassen sich Theorien streng genommen experimentell gar nicht beweisen, sondern nur widerlegen. In einem Selektionsprozess setzen sich diejenigen Theorien durch, die sich nicht widerlegen lassen. „Die Unzufriedenheit mit der Inflationstheorie in dieser Hinsicht hat mich auf die Alternative gebracht“, sagt Anna Ijjas.
Sie braucht eine Strategie, um auf Tagungen wahrgenommen zu werden
Auf Tagungen hat sie es mit dieser „abseitigen“ Kosmologie nicht immer leicht – erst recht nicht als Frau, die zudem auch noch jünger aussieht, als sie ist. Viele nahmen sie oft nicht ernst. „Sie dachten, ich sei eine kleine Studentin, die ihnen nichts zu sagen habe“, erinnert sie sich. Sie hat keine Probleme mit sachlicher Kritik, musste aber eine Strategie entwickeln, um überhaupt wahrgenommen zu werden. „Ich will nicht den anderen das Gefühl vermitteln, dass sie mit ihrer Forschung falschliegen, sondern ich will lediglich meinen Standpunkt darlegen, ohne einen alleinigen Anspruch auf die Wahrheit zu erheben.“
Anna Ijjas schätzt eine sachliche Diskussion und respektiert andere Meinungen. Sie lebt für die Wissenschaft, für Hobbys bleibt kaum Zeit. Tägliches Joggen, ab und zu der Besuch einer Oper oder eine Bergwanderung, das war’s im Wesentlichen. Violine spielen hat sie gelernt, findet jetzt aber keine Zeit mehr dafür. Einen Fernseher besitzt sie nicht, nach Feierabend rechnet sie häufig zu Hause weiter – am zyklischen Universum. Und dieses Modell bietet tatsächlich nach Popper’scher Forderung die Möglichkeit der Falsifizierung. Die Inflation war energetisch so heftig, dass in dieser Phase Gravitationswellen entstanden sein müssen. Der Umschwung im zyklischen Universum verlief dagegen eher sanft, ohne schwere Erschütterungen der Raumzeit. In der kosmischen Hintergrundstrahlung müssten sich Spuren dieser Anfangsphase noch nachweisen lassen.
Diese überall am Himmel beobachtbare Hintergrundstrahlung gilt als älteste Kunde im Universum. Sie entstand etwa 380 000 Jahre nach der Geburt des Alls und weist dezente Schwankungen auf, die als Keimzellen für die weitere Entwicklung zu Galaxien und Galaxienhaufen gelten. Die von der Inflation ausgelösten Gravitationswellen müssten eine Polarisation – eine teilweise Ausrichtung der Wellen in der Hintergrundstrahlung – verursacht haben. Im Frühjahr 2014 ging eine Meldung um die Welt, wonach Forscher mit einem Teleskop namens BICEP 2 genau diese Polarisation nachgewiesen haben wollten. Der Beweis für das inflationäre Universum schien erbracht. Doch genauere Analysen unter Einbeziehung von Daten des europäischen Weltraumteleskops Planck widerlegten das Ergebnis: Staub in der Milchstraße hatte die Polarisation der Hintergrundstrahlung verursacht. Seitdem hat die Suche nach diesem Heiligen Gral der Kosmologie Fahrt aufgenommen.
Mit einem der neuen Teleskope, dem Simons-Observatorium in der chilenischen Atacamawüste, wird Anna Ijjas arbeiten. Finanziert wird das Projekt von dem amerikanischen Milliardär Jim Simons, den Ijjas mit ihren jüngsten Ergebnissen zur Berechnung des Urpralls unlängst davon überzeugen konnte, ihre Forschung auch nach dem Wechsel an das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik weiter zu unterstützen – eine einmalige Ausnahme, da die Simons-Stiftung sich eigentlich auf die Förderung von Projekten in den USA beschränkt. „Jim ist aus philosophischen Gründen ein Anhänger des zyklischen Universums“, sagt Ijjas.
Das Simons-Observatorium könnte die Frage nach der Polarisation innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre lösen. Was, wenn sie tatsächlich gefunden und damit die Vorhersage des zyklischen Universums widerlegt würde? „Nach Popper wäre es der ideale Fall, denn dann wissen wir zumindest, wie das Universum nicht beschaffen ist, und hätten auch viel gelernt“, sagt Ijjas. Sie müsste sich dann neuen Ideen zuwenden – damit hätte sie jedoch keine Probleme. Zu der schwierigen Frage nach Gottes Tun vor Erschaffung der Welt zitiert der Kirchenlehrer Augustinus übrigens noch einen Kollegen, der darauf spöttisch geantwortet hatte: „Höllen bereitete er für die, die so hohe Geheimnisse ergründen wollen.“ Bleibt für Anna Ijjas zu hoffen, dass sich der anonyme Philosoph geirrt hat ...