Die Herausforderung als Chance genutzt
Wie Kommunen die Aufnahme Schutzsuchender 2015 und 2016 gestaltet haben
Als vor fünf Jahren mehrere Hunderttausend Geflüchtete innerhalb kurzer Zeit nach Deutschland kamen, wurden die zuständigen Kommunalverwaltungen auf die Probe gestellt. Das bedeutete eine Herausforderung für den Staat mit seinen Sozialsystemen und die Verwaltung, aber keinesfalls eine Überforderung. Vielmehr bewies die lokale Verwaltung in den Jahren 2015/16 grundsätzlich ihre Leistungsfähigkeit. Allerdings wurden im Zuge der Aufnahme durch die Kommunen Schutzsuchende auch ausgegrenzt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen, in der drei Kommunen in Niedersachsen untersucht wurden.
Bis zu 100 Neuankömmlinge wöchentlich nahmen die drei untersuchten Städte 2015/16 auf (bei einer Einwohnerzahl von 165.000, 130.000 bzw. 80.000). Dies stellte sie vor eine enorme Herausforderung, da es vorab keine genauen Informationen dazu gab, um wie viele Menschen es sich genau handelte und welche Eigenschaften oder Bedürfnisse sie hatten. Darüber hinaus änderte sich der Rechtsrahmen in Deutschland durch eine Vielzahl neuer oder geänderter Gesetze, die ab 2015 in rascher Abfolge verabschiedet wurden. Und auch auf europäischer Ebene war die politische Entwicklung für die einzelnen Kommunen schwer zu überblicken.
Obwohl die Behörden angesichts der damals kaum einschätzbaren Lage häufig spontan reagieren mussten und die Arbeitsbelastung hoch war, brachen die lokalen Strukturen in dieser Phase der Unsicherheit keineswegs zusammen. Vielmehr sorgten die Verwaltungen in vielen Kommunen dafür, dass die Aufnahme funktionierte und die beteiligten Stellen an einem Strang zogen, obwohl sie weitgehend unvorbereitet waren. „In Anlehnung an Merkels berühmte Worte, können die Kommunen von sich sagen ‚Wir haben das geschafft‘“, sagt die Autorin der Studie Miriam Schader.
Große Unterschiede im Umgang mit der Herausforderung
Die Verwaltungen aller drei untersuchten Städte schalteten zunächst in einen „Notbetrieb“ mit kurzen Entscheidungswegen und waren so fähig, die Phase der Unsicherheit kurzfristig zu bewältigen. Allerdings zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Kommunen, vor allem, wie sie mittel- bis langfristig mit der Herausforderung umgingen. Das stellte die Wissenschaftlerin durch zahlreiche Interviews mit Verwaltungsmitarbeitenden von der Sachbearbeitungs- bis zur Dezernatsebene fest.
Die mittlere der drei untersuchten Städte zum Beispiel weigerte sich vorübergehend, weitere Schutzsuchende aufzunehmen. Damit reichte sie die Verantwortung schlicht an andere Kommunen weiter. Man verwies auch auf das Land Niedersachsen und den Bund, die dafür sorgen sollten, dass künftig weniger Geflüchtete ankommen. Als nach der Schließung der Balkanroute im Frühjahr 2016 tatsächlich deutlich weniger Schutzsuchende ins Land kamen, kehrte man in der Kommune schnell wieder zum Alltagsgeschäft zurück. An den eigenen Strukturen hatte man nichts geändert und die Aufnahmekapazitäten schnell wieder reduziert – noch heute gibt es zum Beispiel lediglich eine Halbtagskraft im Büro für Integration; mit zehn neu ankommenden Schutzsuchenden pro Woche sind die Aufnahmekapazitäten bereits ausgelastet.
Kommunen verbesserten Strukturen
Eine ganz andere Strategie entwickelten die beiden anderen Kommunen. Sie machten die Phase der Unsicherheit zu einer Phase des Umbruchs, indem sie sie aktiv gestalteten und ihre bisherigen Strukturen für Migration und Teilhabe verbesserten. So legte zum Beispiel die größte der untersuchten Städte zuvor getrennte Verwaltungsbereiche im Bereich Migration und Teilhabe zusammen, um Geflüchteten den Zugang zu verschiedenen Leistungen wie Kindergeld, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder Hartz IV zu erleichtern.
Die kleinste der drei Städte richtete eine Beratungsstelle für Verwaltungs- und Rechtsfragen ein, die eng mit ehrenamtlichen Integrationslotsen zusammenarbeitet. Sie schuf eigens eine neue Busverbindung zu einer außerhalb gelegenen Unterkunft. Asylsuchende erhielten zudem eine elektronische Gesundheitskarte.
Diese Maßnahmen und neuen Strukturen in zwei der untersuchten Städte zielten nicht nur darauf ab, die Folgen des Zuzugs von 2015/16 zu bewältigen, sondern auch darauf, den Realitäten einer von Migration und Diversität geprägten Gesellschaft langfristig besser gerecht zu werden. Auf diese Weise stellten zwei der drei untersuchten Kommunen ihre Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit unter Beweis.
Trotz aller Erfolge auch Ausgrenzung
Allerdings gingen die Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe immer auch mit Prozessen der Ausgrenzung einher. „Natürlich darf man die Aufnahmesituation auch in den Kommunen, die sich durch größere Offenheit und den Willen zur Veränderung auszeichnen, nicht naiv betrachten“, so Miriam Schader. „Die Geflüchteten selbst machten auch dort wie fast überall prägende Erfahrungen der Ausgrenzung.“ Viele Unterkünfte seien mehr oder weniger eilig umfunktionierte Gebäude, die sich nur bedingt zum Wohnen eigneten und kaum Privatsphäre böten, obwohl viele Menschen dort lange Zeit lebten. Andere lägen mitten in Gewerbegebieten. Durch die Belegung von Unterkünften ausschließlich mit Männern oder mit denjenigen, die aus Sicht der Verwaltung nicht ins System passten, würden die Geflüchteten dort teilweise zusätzlich isoliert, weil zum Beispiel Unterstützung durch Ehrenamtliche wegfalle. „Bestimmte Unterkünfte dienen auch der Disziplinierung derjenigen, die nicht ins Bild passen – und derjenigen, die aus Sorge, ebenfalls einer bestimmten Unterkunft zugewiesen zu werden, lieber vorsichtig sind“, so Schader.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Kommunen wenig auf Orientierungshilfen wie Best-Practice-Modelle zurückgriffen. Auch dadurch sei ein Flickenteppich an kommunalen Modellen für die Aufnahme von Geflüchteten entstanden. Entsprechend unterschiedlich sind die Erfahrungen, die Schutzsuchende an verschiedenen Standorten machen. Nicht überall nutzte man die Gelegenheit, langfristige strukturelle Anpassungen für die Aufnahme Geflüchteter vorzunehmen. Ein Versäumnis, das nach den Erkenntnissen der Studie nicht von Weitsicht zeugt – sei es doch nur eine Frage der Zeit, bis wieder mehr Menschen in Deutschland Asyl suchen.
Eva Völker