Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Astronomie
Kosmischer Stoßverkehr in der Stern- und Planetenentstehung
Das molekulare Gas in Galaxien wird durch physikalische Prozesse wie galaktische Rotation, Supernova-Explosionen, Magnetfelder, Turbulenzen und Schwerkraft in Bewegung gesetzt und formt ein Strömungsnetz. Es ist schwierig zu ermitteln, wie sich diese großräumigen Bewegungen auf die kleinskaligere Stern- und Planetenentstehung auswirken, da die Gasbewegung über viele Größenordnungen gemessen werden müssen und diese Bewegung dann mit den beobachteten Sternentstehungsregionen in Verbindung gebracht werden muss.
Moderne astrophysikalische Instrumente kartografieren heute routinemäßig riesige Bereiche des Himmels, wobei einige Karten Millionen von Pixeln enthalten, von denen jedes Hunderte bis Tausende von unabhängigen Geschwindigkeitsmessungen enthält. Folglich ist die Messung dieser Bewegungen sowohl wissenschaftlich als auch technologisch anspruchsvoll.
Unser internationales Forscherteam hat es sich zur Aufgabe gemacht, mithilfe von Beobachtungen des Gases in der Milchstraße und einer nahen Galaxie die Gasbewegungen in einer Vielzahl unterschiedlicher Umgebungen zu untersuchen. Hierfür messen wir die spektrale Verschiebung von Emissionslinien von Molekülen, die sich in dem Gas relativ zu uns bewegen (Dopplereffekt). Durch den Einsatz einer von uns eigens hierfür entwickelten Software konnten wir sehr effizient Millionen von Messungen analysieren. Diese Methode ermöglichte es uns, das interstellare Medium auf eine neue Art und Weise zu betrachten.
Bei Beobachtungen der Spiralgalaxie NGC 4321 (Messier 100) und der Zentralregion der Milchstraße fanden wir heraus, dass die Bewegungen des kalten molekularen Gases in der Geschwindigkeit zu fluktuieren scheinen, was an Wellenbewegungen an der Oberfläche des Ozeans erinnert (Abbildung 1 und Video). Diese Fluktuationen stellen Gasbewegungen dar. Das ist an sich noch nicht verwunderlich. Überraschend war aber die Ähnlichkeit der Geschwindigkeitsstruktur in Regionen unterschiedlicher Größe. Es spielte keine Rolle, ob wir die gesamte Galaxie oder eine einzelne Wolke innerhalb unserer eigenen Galaxie betrachteten; die Struktur war mehr oder weniger die gleiche.
Um die Eigenschaften der Gasströme besser zu verstehen, wählten wir mehrere Regionen für eine eingehende Untersuchung aus, und setzten ausgeklügelte statistische Techniken ein, um nach Unterschieden zwischen den Schwankungen zu suchen. Durch die Kombination einer Vielzahl verschiedener Messungen konnten wir feststellen, wie die Geschwindigkeitsfluktuationen von der räumlichen Verteilung abhängen.
Ein besonderes Merkmal unserer Analysetechnik ist ihre Empfindlichkeit für periodische Schwankungen. Wenn in den Daten periodische Muster auftreten, wie riesige Molekülwolken in gleichen Abständen entlang eines Spiralarms, können wir direkt die Größenskala bestimmen, auf der sich das Muster wiederholt. Dadurch identifizierten wir drei filamentartige Gasstränge, die alle eine einheitliche Struktur zeigen, obwohl sie sehr unterschiedliche Größenordnungen abbilden. Sie sind nahezu regelmäßig aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um riesige Molekülwolken entlang eines Spiralarms oder um winzige, dichte Kerne innerhalb der Wolken handelt, die entlang eines Filaments Sterne bilden (Abbildung 2). Man erkennt hierin eine erstaunliche Skaleninvarianz.
Wir entdeckten, dass die Geschwindigkeitsschwankungen, die mit gleichmäßig entfernten Strukturen verbunden sind, alle ein charakteristisches Muster aufweisen: Die Fluktuationen sehen aus wie Wellen, die entlang des zentralen Grats der Filamente oszillieren. Sie haben eine eindeutig definierte Amplitude und Wellenlänge. Der periodische Abstand der riesigen Molekülwolken auf großen Skalen oder einzelner sternbildender Kerne auf kleinen Dimensionen ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ihre Mutterfilamente durch die Schwerkraft instabil geworden sind. Wir sind der Ansicht, dass diese oszillierenden Ströme auf Gas hinweisen, das entlang der Spiralarme oder in Richtung der Verdichtungen strömt und neues Rohmaterial für die Sternentstehung liefert.
Andererseits scheinen die Geschwindigkeitsfluktuationen nicht überall so geordnet. Innerhalb von riesigen Molekülwolken weisen sie in dem Größenbereich zwischen einzelnen großen Wolken und den winzigen Wolkenkernen keine charakteristische Skala auf. Die Dichte- und Geschwindigkeitsstrukturen, die wir in riesigen Molekülwolken sehen, sind maßstabsunabhängig. Die turbulenten Gasströmungen, die diese Strukturen erzeugen, bilden eine chaotische Kaskade, die bei näherer Betrachtung immer kleinere Fluktuationen offenbart – ähnlich wie bei Fraktalen, für die Brokkoli oder Schneeflocken Beispiele sind. Dieses maßstabsfreie Verhalten findet zwischen zwei wohldefinierten, geordneten Extremen statt: dem großen Maßstab der gesamten Wolke und dem kleinen Maßstab der Wolkenkerne, die einzelne Sterne bilden. Wir erkennen nun, dass diese beiden Extreme bestimmte charakteristische Größen besitzen, aber dazwischen herrscht Chaos.
Wir können uns die riesigen Molekülwolken als voneinander gleich weit entferne Megastädte vorstellen, die durch Autobahnen miteinander verbunden sind. Aus der Vogelperspektive erscheint die Struktur dieser Städte mit den Autos und den Menschen, die sie durchkreuzen, chaotisch und ungeordnet. Wenn wir jedoch einzelne Straßen betrachten, sehen wir Menschen, die von weit her angereist sind und ihre einzelnen Bürogebäude in geordneter Weise betreten. Die Bürogebäude gleichen den dichten und kalten Wolkenkernen aus Gas, aus denen Sterne und Planeten geboren werden.