Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung
Covid-19: Lebenserwartung in den meisten Industriestaaten gesunken
Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Um schnell und angemessen auf Epidemien reagieren zu können, muss die Lage permanent überwacht werden. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten wurden verschiedene, nur kurz anhaltende Sterblichkeits-Höchststände etwa im Zusammenhang mit Influenza, Hitzewellen oder Winterkälte und Naturkatastrophen beobachtet. Doch erst die Covid-19-Pandemie hat uns gezeigt, wie unzureichend die bestehenden Systeme sind, um schnell Daten zu erheben, die öffentlich zugänglich, genau und international vergleichbar sind. Daten für Schlüsselparameter der Pandemie wie die Inzidenz neuer Covid-19-Fälle und die Anzahl der Todesfälle sind kaum vergleichbar, da es in den verschiedenen Ländern große Unterschiede darin gibt, wie auf das Virus getestet und wann Covid-19 als Todesursache erfasst wird.
Metrik der Übersterblichkeit ermöglicht internationale Vergleiche
Ein Ansatz, um kurzfristige Schwankungen der Sterblichkeit zu messen, ist die Metrik der Übersterblichkeit. Mit „Übersterblichkeit“ ist die Differenz aus der Gesamtsterblichkeit in einer Kalenderwoche und dem erwarteten Wert, berechnet aus den Daten der vorangegangenen Jahre, gemeint. Um geeignete Daten für die Berechnung der Übersterblichkeit zu sammeln, haben wir eine neue Datenreihe als Teil des Projekts Human Mortality Database (HMD) (www.mortality.org) vom MPIDR und der University of California, Berkeley, etabliert.
Die Datenreihe Short-term Mortality Fluctuations (STMF) [1] ist die erste internationale Datenbank, die harmonisierte und vollständig dokumentierte Daten zur Gesamtsterblichkeit für jede Kalenderwoche bereitstellt. Das Online-Visualisierungstool der STMF bildet die Übersterblichkeit für eines oder mehrere Länder im Vergleich ab. Wir sehen die STMF-Datenreihe nicht nur als eine wichtige wissenschaftliche Datenquelle, sondern auch als ein Instrument, um gesellschaftliche und politische Akteure und Akteurinnen über das tatsächliche Ausmaß und den Verlauf der Pandemie zu informieren. Anhand der STMF-Daten haben wir gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen der Universitäten Oxford, Harvard, Leicester und Cambridge die Sterblichkeit während der Pandemie in 37 Industrieländern analysiert. In dieser Studie haben wir die tatsächliche Lebenserwartung und die Zahl verlorener Lebensjahre im Jahr 2020 mit den Werten verglichen, die auf Grundlage der Daten von 2005 bis 2019 zu erwarten gewesen wären. Die Studie wurde im Fachjournal BMJ veröffentlicht. [2]
In Neuseeland, Taiwan und Norwegen ist die Lebenserwartung gestiegen
Die Lebenserwartung gibt an, wie lange Menschen im Durchschnitt leben werden, wenn die Umstände des untersuchten Jahres, ausgedrückt in der demografischen Metrik der altersspezifischen Sterblichkeitsrate, für den Rest ihres Lebens konstant blieben.
Wir stellten fest, dass die Lebenserwartung für Männer und Frauen in 31 der 37 untersuchten Länder sank. In Neuseeland, Taiwan und Norwegen stieg dagegen die Lebenserwartung im Jahr 2020. In Dänemark, Island und Südkorea veränderte sich die Lebenserwartung nicht.
Am stärksten sank die Lebenserwartung mit 2,33 Jahren für Männer in Russland, für Frauen in Russland ging sie um 2,14 Jahre zurück. An zweiter Stelle in dieser Auswertung liegen die USA, wo die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer um 2,27 Jahre und der Frauen um 1,61 Jahre fiel. In Bulgarien nahm sie für Männer um 1,96 Jahre und für Frauen um 1,37 Jahre ab. In Deutschland sank die Lebenserwartung um etwa fünf Monate für Männer und knapp zwei Monate für Frauen – im internationalen Vergleich nur wenig.
In den 31 Ländern, in denen die Lebenserwartung 2020 gesunken ist, gingen mehr als 222 Millionen Lebensjahre verloren. Das sind 28,1 Millionen verlorene Lebensjahre mehr als erwartet. Davon haben Männer 17,3 Millionen Lebensjahre verloren, Frauen 10,8 Millionen. Dieser Wert ist mehr als fünfmal so hoch wie bei der Grippe-Epidemie 2015.
Die Metrik der verlorenen Lebensjahre drückt die Differenz zwischen der Lebenserwartung und dem vorzeitigen Tod aus. Der Ansatz schätzt die durchschnittliche Anzahl an Jahren ab, die eine Person noch gelebt hätte, wenn sie nicht vorzeitig gestorben wäre. Wenn Menschen in einem höheren Alter sterben, verlieren sie weniger Lebensjahre als jüngere Menschen.
Obwohl wir davon überzeugt sind, dass die Metrik der Übersterblichkeit die ideale Methode ist, die Auswirkungen der Pandemie zu bemessen, müssen wir bedenken, dass sie das Alter zum Zeitpunkt des Todes nicht berücksichtigt. Im Gegensatz dazu beachtet die Metrik der verlorenen Lebensjahre die Altersverteilung der Sterblichkeit, indem sie Todesfälle in jüngerem Alter stärker gewichtet.
Methode erfasst sowohl direkte als auch indirekte Auswirkungen auf die Sterblichkeit
Die gesunkene Lebenserwartung wurde als Differenz zwischen der beobachteten und der erwarteten Lebenserwartung für das Jahr 2020 berechnet, die mithilfe der Sterblichkeitsdaten der Jahre 2005 bis 2019 hochgerechnet wurde. Der Überschuss an verlorenen Lebensjahren wurde als Differenz zwischen den beobachteten und den erwarteten verlorenen Lebensjahren ermittelt.
Diese Methode erfasst sowohl die direkten Auswirkungen, das heißt die Todesfälle durch Covid-19, als auch die indirekten Auswirkungen, das sind die Todesfälle durch alle anderen Ursachen, der Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen. Am Ende des Jahres 2021 ist die Covid-19-Pandemie noch nicht vorbei und daher werden weitere Studien nötig sein, um die langfristigen Folgen zu bemessen.