Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik

Fundamentale Wechselwirkungen aus der Sicht komplexer Systeme

Autoren
Heller, Michal P.
Abteilungen
Gravitation, Quantenfelder und -information
Zusammenfassung
Einstein revolutionierte unsere Vorstellung der Gravitation, als er sie als Geometrie von Raum und Zeit beschrieb. Etwa zwanzig Jahre nach diesen bahnbrechenden Arbeiten war Einstein an der Entdeckung eines Phänomens beteiligt, das wir heute Verschränkung nennen. Es liegt zum Beispiel einem Quantencomputer zugrunde. Interessanterweise wurde die quantenphysikalische Verschränkung jüngst auch bei dem Verständnis der Schwerkraft einer der zentralen Begriffe – ein Beispiel für eine breitere Erforschung der fundamentalen Wechselwirkungen aus der Sicht komplexer Systeme.
 

Auf großen Skalen dominiert die Gravitation, also die Geometrie von Raum und Zeit, das Geschehen im Universum. Auf den kleinsten Skalen beschreibt die Quantenfeldtheorie die verbleibenden drei fundamentalen Wechselwirkungen: die elektromagnetische, starke und schwache Kraft.  Die starke Wechselwirkung agiert im Wesentlichen zwischen den Quarks und regelt die Kernkollisionen an den RHIC- und LHC-Teilchenbeschleunigern.

Eine der universellen Vorhersagen der Schwerkraft ist die der Existenz von Schwarzen Löchern, für deren Erforschung 2020 der Physik-Nobelpreis verliehen wurde. Aus den Arbeiten in den 1970er Jahren von Jacob Bekenstein, Stephen Hawking und anderen wissen wir, dass Schwarze Löcher Entropie tragen – eine Größe, die im Alltag zum Beispiel für Wasser die Zusammensetzung aus vielen Molekülen widerspiegelt. Dies bedeutete zunächst, dass Schwarze Löcher zwar reine Eigenschaften von Raum und Zeit und daher zumindest oberflächlich strukturlose astrophysikalische Objekte sind, dennoch aus einigen elementareren Bestandteilen bestehen müssen. Es war lange nicht bekannt, was diese „Moleküle der Raumzeit“ sind. Ein Durchbruch gelang Ende 1990, Juan Maldacena. Er entdeckte, dass die Gravitation in bestimmten Universen als Manifestation von starke-Wechselwirkung-ähnlichen Quantenfeldtheorien betrachtet werden kann [1]. Damit hatte er einen Zusammenhang zwischen Quantenphysik und Gravitation hergestellt.

Diese sogenannte AdS/CFT-Korrespondenz hat drei weitreichende Auswirkungen. Erstens kann man sich die Gravitation und damit die Geometrie der dynamischen Raumzeit als ein emergentes Phänomen vorstellen. Dies erfordert insbesondere eine Interpretation grundlegender geometrischer Objekte wie Flächen oder Volumina aus der Sicht komplexer Systeme. Zweitens muss der Mechanismus, der die Zeitentwicklung in Quantenfeldtheorien regelt, auch der Gravitation unterliegen (zumindest im Rahmen der Korrespondenz). Dies hat Auswirkungen auf das sogenannte Hawking-Informationsparadoxon. Drittens kann man sich zumindest bestimmte Schwarze Löcher als Manifestation von Flüssigkeiten vorstellen, deren elementare Bestandteile nichts anderes als Quantenfelder sind, die starken Wechselwirkungen ähnlich sind. Dies legt Versuche nahe , einige Phänomene zu modellieren, die bei starken Wechselwirkungen auftreten, beispielsweise bei Kernkollisionen, indem man sie sich als Eigenschaften von Schwarzen Löchern vorstellt. Diese drei Ideen bilden das konzeptionelle Rückgrat der im Folgenden beschriebenen Forschung.

Neuartige Beschreibung Schwarzer Löcher

Bereits seit mehr als 15 Jahren wissen wir aufgrund einer bahnbrechenden Arbeit von Shinsei Ryu und Tadashi Takayanagi  Ryu und Takayanagi, dass Bereiche bestimmter Oberflächen in bestimmten Gravitationstheorien dem Ausmaß der Verschränkung in zugrundeliegenden Quantenfeldtheorien entsprechen. Wenn (einige) Oberflächenbereiche in der Schwerkraft Verschränkung einschließen, wie lautet dann die Interpretation anderer natürlicher geometrischer Objekte wie Volumen? Hierzu zählt, zum Beispiel das von einem Schwarzen Loch eingeschlossene Volumen.

Im Jahr 2013 wurde vermutet, dass solche Volumina anzeigen, wie schwer es ist, einen Zustand, zum Beispiel eines Schwarzen Lochs, mit einem Quantencomputer darzustellen. Diese sogenannte Komplexität ist eine notorisch schwierig zu handhabende Größe. Ab 2017 kam es mit Beiträgen von Forschern des Albert-Einstein-Instituts zu einem bedeutenden Fortschritt beim Verständnis der Eigenschaften von Komplexität in einem neuartigen Setting von Quantenfeldtheorien [2]. Diese Arbeiten legten den Grundstein für eine mögliche präzise mikroskopische quantenphysikalische Interpretation von Volumen in der Schwerkraft.

Zur Lösung des Informationsparadoxons

Wenn es um das Thema Zeitentwicklung in der Schwerkraft geht, betrifft der wohl interessanteste Aspekt das Langzeitverhalten von Schwarzen Löchern. Hawking zeigte in den 1970er Jahren, dass Schwarze Löcher Energie auf eine scheinbar strukturlose (thermische) Weise abstrahlen. Langfristig kann ein solcher Prozess dazu führen, dass das Schwarze Loch vollständig verdampft. Das erwähnte Informationsparadoxon betrifft die Frage, was mit der Information über den Anfangszustand passierte, als das Schwarze Loch verdampfte. Die Quantenfeldtheorien, die der AdS/CFT-Korrespondenz durch Konstruktion zugrunde liegen, bewahren Informationen, aber wie diese in das entstehende Gravitationsbild eingeprägt werden, war eine wichtige offene Frage. Ein Durchbruch kam 2019 in Form einer neuen Denkweise darüber, wie der Informationsgehalt der Hawking-Strahlung quantifiziert werden kann [3]. Zum besseren Verständnis dieses neuen Paradigmas haben Forscher des Albert-Einstein-Instituts mit einem besonders anschaulichen Anwendungsbeispiel beigetragen [4].

Schwarze Löcher und flüssige Kernmaterie

Die Anwendungen der AdS/CFT-Korrespondenz auf nukleare Kollisionen an RHIC- und LHC-Beschleunigern sind ein weiteres Beispiel für die Perspektive komplexer Systeme auf fundamentale Wechselwirkungen. Eine zentrale Forschungsfrage im Zusammenhang mit diesen Experimenten ist, wann der angeregte Feuerball der Kernmaterie zu einer Flüssigkeit wird. Wichtige Einblicke in dieses Problem wurden gewonnen, indem man Schwarze Löcher in der AdS/CFT-Korrespondenz als ein entstehendes gravitatives Gegenstück zu flüssigkeitsähnlichen Zuständen in den zugrunde liegenden Quantenfeldtheorien betrachtet. Wenn Schwarze Löcher angeregt werden, relaxieren sie mit charakteristischen Zerfallsraten und Frequenzen. Wie sich herausstellte, kann man sich einige dieser Größen als Manifestationen des Flüssigkeitsverhaltens vorstellen, und der Rest stellt vorübergehende Nichtgleichgewichtsphänomene dar. Forscher des Albert-Einstein-Instituts zeigten, dass das flüssigkeitsähnliche Verhalten eng mit diesen vorübergehenden Phänomenen verbunden ist [5]. Das hat Konsequenzen für die Frage, was unter flüssiger Kernmaterie zu verstehen ist (Abbildung 1).

Ein Standardansatz für fundamentale Wechselwirkungen besteht darin, bei hohen Energien nach eingebauter Einfachheit zu suchen. Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte, an denen die Forscher des Albert-Einstein-Instituts beteiligt waren, haben gezeigt, dass es nicht nur Raum, sondern auch Bedarf für einen komplementären Ansatz auf Basis komplexer Systeme gibt. Dies bedeutet nicht, dass es für Einfachheit keinen Raum gibt – sie entsteht oft als emergentes Konzept.

Literaturhinweise

Maldacena, J.
The Illusion of Gravity
Scientific American 17, 74-81 (2007)
Camargo, H. A; Heller, M. P.; Jefferson, R.; Knaute, J.
Path integral optimization as circuit complexity
Physical Review Letters 123, 011601 (2019)
Musser, G.
The Most Famous Paradox in Physics Nears Its End
Quanta Magazine (2020)
Chen, H. Z.; Myers R. C.; Neuenfeld, D.; Reyes, I. A.; Sandor, J.
Quantum Extremal Islands Made Easy, Part I: Entanglement on the Brane
Journal of High Energy Physics 10, 166 (2020)
Heller, M. P.; Serantes, A.; Spaliński, M.; Svensson, M.; Withers, B.
Hydrodynamic gradient expansion in linear response theory
Physical Review D 104, 6, 066002 (2021)

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