Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Astronomie
Rohmaterial für neue Sterne
Wasserstoff ist im Universum die am weitesten verbreitete Substanz und die Hauptzutat bei der Entstehung von Sternen. Leider können wir einzelne Wolken aus Wasserstoffgas gewöhnlich schwierig nachweisen, was uns die Erforschung der Frühphasen der Sternentstehung erschwert. Umso sensationeller ist unsere Entdeckung einer überraschend langen Struktur, einem Filament aus atomarem Wasserstoffgas. Die Daten basieren auf der THOR-Durchmusterung (The HI/OH/Recombination line survey of the Milky Way), die vom MPIA geleitet wird. Sowohl an diesem Beobachtungsprogramm als auch der Entdeckung des Filaments sind weitere aktuelle, aber auch ehemalige Forschende des MPIA beteiligt.
Zum Fund beigetragen hat der glückliche Umstand, dass sich dieses Filament etwa 1600 Lichtjahre unterhalb der Milchstraßenebene befindet (Abb.1 und Video). Wenn wir üblicherweise Gas im Licht des atomaren Wasserstoffs bei einer Wellenlänge von 21 Zentimetern beobachten, überlagern sich die Signale einzelner Wolken in unterschiedlichen Entfernungen zu einem komplexen und undurchdringlichen Durcheinander. Durch die besondere Lage des Filaments hebt es sich jedoch deutlich vor dem schwachen Hintergrund ab. Wie es sich so weit von der Milchstraßenscheibe entfernen konnte, bleibt allerdings vorerst rätselhaft.
Einen ersten Hinweis auf dieses Objekt fand Juan D. Soler, ehemals MPIA-Astronom, bereits vor einem Jahr. Er taufte es auf den Namen Maggie nach dem längsten Fluss seines Heimatlandes Kolumbien, dem Río Magdalena. Aber erst die aktuelle Analyse verrät uns, dass es sich tatsächlich um eine zusammenhängende Struktur handelt. Die Beobachtungsdaten ermöglichten uns nämlich, innerhalb der Grenzen der räumlichen Auflösung die Geschwindigkeit des Wasserstoffgases zu ermitteln (Abb. 2). So stellte sich heraus, dass sich die Geschwindigkeiten entlang des Filaments kaum unterscheiden.
Maggies mittlere Geschwindigkeit wird maßgeblich durch die Rotation der Milchstraße bestimmt. Mit dieser Kenntnis und einer neuen Datenauswertungsmethode, die unsere frühere MPIA-Kollegin Sümeyye Suri entwickelt hat, haben wir die Größe und Entfernung des Filaments bestimmt. Es ist etwa 3900 Lichtjahre lang und 130 Lichtjahre breit. Mit einer Entfernung von rund 55.000 Lichtjahren befindet sich Maggie hinter dem galaktischen Zentrum auf der anderen Seite der Milchstraße. Dem gegenüber sind die größten bekannten Wolken aus molekularem Gas typischerweise „nur“ etwa 800 Lichtjahre groß.
Bei genauerem Hinsehen stellten wir fest, dass das Gas an einigen Stellen entlang des Filaments aufeinander zuläuft. Wir schließen daraus, dass sich das Wasserstoffgas dort zu großen Wolken anhäuft und verdichtet. Das sind die Bedingungen, unter denen sich Wasserstoffatome möglicherweise zu Molekülen zusammenlagern.
Für die Sternentstehung ist dies ein wichtiger Prozess. Wasserstoff tritt nämlich im Universum in verschiedenen Zuständen auf. Man findet es in Form von Atomen (H) und in Molekülen (H2). Nur das molekulare Gas bildet relativ dichte Wolken, in denen sich sehr kalte Bereiche ausprägen, wo schließlich neue Sterne entstehen. Wie aber der Übergang von atomarem zu molekularem Wasserstoff genau passiert, ist noch weitgehend unbekannt.
Bei der Analyse von bereits veröffentlichten Daten fanden wir tatsächlich Anzeichen dafür, dass Maggie einen Massenanteil von etwa 8 % molekularem Wasserstoff enthält. Womöglich sehen wir hier eine Region in der Milchstraße, in der sich das unmittelbare Rohmaterial für neue Sterne ansammelt. Allerdings bleiben noch viele Fragen offen. So würden wir gerne wissen, wie die Gaswolke entstanden ist und wie es sich so weit von der galaktischen Scheibe der Milchstraße entfernen konnte. Hier können Simulationen helfen, die das Wechselspiel zwischen externen Einflüssen wie Satellitengalaxien und der Milchstraße untersuchen.
Außerdem können wir keinesfalls sicher sein, dass wir die Menge an molekularem Wasserstoff genau genug bestimmt haben. H2 ist nämlich im Gegensatz zu H fast ausschließlich indirekt nachweisbar, beispielsweise über andere Moleküle wie das Kohlenmonoxid (CO). Hierbei verwendet man ein emprisch ermitteltes Verhältnis von CO zu H2. Schlussfolgerungen über die Menge an H2 setzen aber voraus, dass in dieser Umgebung die Bedingungen vergleichbar zu denen in anderen Wolken sind. Deshalb könnte sich bereits viel mehr H2 gebildet haben, als es die Beobachtung von CO vermuten lässt. Weiterhin könnten die Messungen des CO nicht empfindlich genug gewesen sein, um kompakte, lokale Anhäufungen überhaupt zu entdecken.
Weitere Daten von möglicherweise zuverlässigeren Markermolekülen, über die wir uns zusätzliche Hinweise über den Anteil des molekularen Gases erhoffen, warten jedoch bereits auf ihre Auswertung.