Wie das Gehirn unsere Aufmerksamkeit lenkt
Eine winzige Hirnstruktur, der Locus coeruleus, reguliert vermutlich die Sensitivität unseres Gehirns für relevante Informationen
Wie können wir von einem Zustand der Unachtsamkeit zu einem höchster Aufmerksamkeit wechseln? Der Locus coeruleus, der auch als blauer Kern bezeichnet wird, ist eine winzige Zellstruktur im Hirnstamm. Als Hauptquelle des Botenstoffes Noradrenalin hilft er dabei, unseren Aufmerksamkeitsfokus zu kontrollieren. Durch Zusammenführung von Ergebnissen früherer Studien argumentieren Wissenschaftler*innen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der University of Southern California, dass der blaue Kern die Sensitivität unseres Gehirns in Situationen reguliert, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Ihre Annahmen stellen sie in einem Meinungsartikel vor, der in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences veröffentlicht wurde.
Unsere Aufmerksamkeit schwankt: Meist sind wir konzentriert und können uns leicht auf das Wichtigste fokussieren, manchmal sind wir jedoch abgelenkt und es entgehen uns wichtige Dinge. Wenn wir beispielsweise nach getaner Arbeit nach Hause gehen und im Geiste die Einkaufsliste für das Abendessen durchgehen, sind wir in einem Zustand der Unachtsamkeit. Wenn aber plötzlich ein Auto hupt, können wir sofort unsere Aufmerksamkeit umlenken und auf diese neue Situation reagieren. Wie aber gelingt es unserem Gehirn, innerhalb kürzester Zeit von einem Zustand der Unachtsamkeit in einen fokussierter Aufmerksamkeit umzuschalten?
Während Phasen der Unachtsamkeit ist unser Gehirn von rhythmischen Fluktuationen neuronaler Aktivität geprägt. Es wird angenommen, dass in Momenten der Unachtsamkeit langsame rhythmische Aktivitätsmuster mit einer Frequenz von rund 10 Hertz, sogenannte Alpha-Oszillationen, die aktive Verarbeitung von eingehenden Sinnesinformationen hemmen. Diese Alpha-Oszillationen können dabei als Filter verstanden werden, der die Empfindlichkeit des Gehirns für externe Informationen reguliert.
„Während der Zusammenhang zwischen der Zu- und Abnahme von Alpha-Oszillationen und Aufmerksamkeit schon länger beobachtet wurde, blieb bislang offen, was diese rhythmischen Aktivitätsmuster kommen und gehen lässt“, sagt Markus Werkle-Bergner, Senior Research Scientist im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Koautor des Meinungsartikels in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences.
Zur Untersuchung dieser Frage betrachteten die Wissenschaftler*innen den blauen Kern (Locus coeruleus), eine winzige Zellstruktur im Hirnstamm, die tief unter der Hirnrinde verborgen ist. Diese Ansammlung von Nervenzellen ist nur ungefähr 15 Millimeter groß, sie ist jedoch über ein umfassendes Netzwerk weitreichender Nervenfasern mit einem Großteil des Gehirns verbunden. Die Neuronen, aus denen der blaue Kern besteht, sind die Hauptquelle des Botenstoffs Noradrenalin im Gehirn. Durch Regulation der neuronalen Kommunikation trägt Noradrenalin zur Kontrolle von Stress, Gedächtnisleistung und Aufmerksamkeit bei.
„Wegen seiner geringen Größe und seiner Lage tief im Hirnstamm war es bisher fast unmöglich, den noradrenergenen, blauen Kern bei lebenden Menschen ohne operativen Eingriff zu untersuchen. Allerdings konnte die Tierforschung in den letzten Jahren zeigen, dass Veränderungen der Pupillengröße mit der Aktivität des blauen Kerns zusammenhängen. Insofern können unsere Augen als Fenster zu einer Hirnregion betrachtet werden, die lange unerreichbar schien,” sagt Mara Mather, Professorin für Gerontologie an der University of Southern California und Koautorin des Meinungsartikels.
Um zu untersuchen, ob das Noradrenalin des blauen Kerns einer der Faktoren sein könnte, der Alpha-Oszillationen reguliert, kombinierten die Wissenschaftler*innen Messungen der Pupillengröße und neuronaler Rhythmen, während Studienteilnehmende eine schwierige Aufmerksamkeitsaufgabe lösten. Wie erwartet, wurde eine Abnahme von Alpha-Oszillationen in jenen Momenten beobachtet, in denen die Pupillen geweitet waren. Außerdem konnten diejenigen Personen, die stärkere Pupillen- und Alpha-Antworten aufwiesen, die Aufmerksamkeitsaufgabe besser lösen. Diese Ergebnisse, die sie bereits 2020 in einem Artikel im Journal of Neuroscience veröffentlicht haben, legen nahe, dass der blaue Kern uns durch die Modulation von Alpha-Oszillationen hilft, unsere Aufmerksamkeit zu regulieren.
Was in dieser Studie unbeantwortet blieb, ist die Frage danach, wie Noradrenalin Alpha-Oszillationen beeinflusst, also wie der Botenstoff die Filterfunktion im Gehirn ein- und ausschaltet. Die Autor*innen wandten sich deswegen zusätzlich früheren Studien mit Tieren zu, in denen neuronale Aktivität direkt von Neuronen im Thalamus abgeleitet wurde. Der Thalamus, eine Region in der Mitte des Gehirns, ist ein wesentlicher Taktgeber des Alpha-Rhythmus. Im Ruhezustand feuern die Neuronen im Thalamus rhythmisch. Diese rhythmischen Feuermuster verursachen die Alpha-Oszillationen, die in Phasen geringer Auferksamkeit in der Hirnrinde feststellbar sind. Wenn man jedoch den Neuronen im Thalamus den Botenstoff Noradrenalin zuführt, stellen sie das rhythmische Feuern ein.
„Durch Zusammenführung der Ergebnisse verschiedener Studien konnten wir nun beschreiben, wie Noradrenalin und der Thalamus bei der Kontrolle von Alpha-Oszillationen zusammenarbeiten könnten. Wir nehmen an, dass das Noradrenalin des blauen Kerns die Alpha-Generatoren im Thalamus blockiert und dadurch die Empfindlichkeit unseres Gehirns für relevante Informationen reguliert“, sagt Martin Dahl, Postdoktorand im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der University of Southern California und Erstautor des Meinungsartikels.
Wenn also eine Situation ein plötzliches Umschalten der Aufmerksamkeit erfordert, wird ein schneller Anstieg von Noradrenalin helfen, uns neu zu fokussieren – und rasch dem herannahenden Auto auszuweichen.
Weitere Studien, die über längere Zeit sowohl den Locus coeruleus als auch den Thalamus bei den gleichen Proband*innen messen, könnten neue Einblicke in die neuronalen Mechanismen der Aufmerksamkeit und ihrer Abnahme im Verlauf des Alterns und bei Krankheit erlauben.