Beruhigen, um zu denken

Forschende finden Unterschiede in den neuronalen Schaltkreisen von Maus und Mensch

23. Juni 2022

Die Analyse des menschlichen Gehirns ist ein zentrales Ziel der Neurowissenschaften. Aus methodischen Gründen hat sich die Forschung jedoch weitgehend auf Modellorganismen, insbesondere die Maus, konzentriert. Nun haben Forschende anhand von Gewebe, das bei neurochirurgischen Eingriffen entnommen wurde, neue Erkenntnisse über die neuronalen Schaltkreise des Menschen gewonnen. Dreidimensionale elektronenmikroskopische Daten zeigen eine Zunahme des hemmenden Interneuron-Netzwerks beim Menschen. Die Entdeckung dieser auffälligen Netzwerkkomponente in der menschlichen Hirnrinde sollte in detaillierten Analysen ihrer Funktion bei neuropsychiatrischen Erkrankungen weiterverfolgt werden.

Die Gehirne von Maus und Mensch scheinen auf den ersten Blick erstaunlich ähnlich: Ihre Nervenzellen sehen ähnlich aus und gleichen sich in vielen Eigenschaften. Die molekularen Mechanismen der elektrischen Erregung sind ebenso erhalten wie viele biophysikalische Phänomene: All das scheint so wie in anderen Tieren auch für den Menschen zu gelten. „Ist es also vor allem die tausendfache Größenzunahme, sind es die tausendmal zahlreicheren Nervenzellen, die uns Schachspielen und Kinderbuchschreiben erlauben, Mäusen aber nicht?“, fragt der Leiter der neuen Studie, Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung (Frankfurt).

Mittels neuronaler Netzwerkkartierung in Gehirnen von Mäusen, Affen und Menschen haben Helmstaedter und sein Team nun entdeckt, dass die neuronalen Netzwerke in der Hirnrinde des Menschen ein neues Interneuron-zu-Interneuron-Netzwerk entwickelt haben, das in Mäusen quasi fehlt. Die Forscherinnen und Forscher vermaßen sogenannte Konnektome aus Gewebsbiopsien, die in neurochirurgischen Eingriffen an der TU München (Team Hanno-Sebastian Meyer) gewonnen wurden, indem sie mit dreidimensionaler Elektronenmikroskopie rund eine Million Synapsen im menschlichen Hirngewebe kartierten. Diese Daten zeigten überraschenderweise, dass gerade die Minderheit der Nervenzellen, hemmende Interneurone, eine äußerst starke Vorliebe (zehnfach erhöht beim Menschen im Vergleich zur Maus) für die synaptische Vernetzung mit anderen Interneuronen entwickelten, während sie die Hemmung der sogenannten Prinzipalzellen weitgehend unverändert beließen.

Ordnungskräfte im Gehirn

„Hemmende Interneurone stellen rund ein Viertel bis ein Drittel der Nervenzellen im menschlichen Kortex, und sie haben ganz erstaunliche Wirkung: sie sind selbst stark elektrisch aktiv, stimulieren damit aber nicht etwa andere Nervenzellen, sondern hemmen sie in ihrer Aktivität. Sie wirken quasi als Beruhiger des Gehirns. So wie Erzieherinnen all ihre Energie darauf verwenden, andere quirlige Lebewesen im Zaume zu halten, oder Ordnerinnen in Fußballstadien und Museen: Ihr sehr anstrengender und stark energieverbrauchender Einsatz gilt der Beruhigung der anderen!“, erklärt Helmstaedter. „Aber stellen Sie sich nun einen Raum voller Museumswärter, ein Stadion voller Fußballordnerinnen vor, die alle sich gegenseitig beruhigen. Diese Art von Netzwerk hat das menschliche Gehirn entwickelt!“

Was könnte die Bedeutung dieser Netzwerke sein? Die Dynamik, die entsteht, wenn hemmende Nervenzellnetzwerke mit sich selbst kommunizieren, ist noch nicht gut verstanden. „Es gibt theoretische Hinweise darauf, dass sie zu längerem Verweilen von Sinneseindrücken oder „Gedanken“ führen, also das Arbeitsgedächtnis verlängern können. Das erlaubt weitreichende Spekulationen: handelt es sich bei diesen neuartigen Netzwerken um die Grundlage ausschweifenden Denkens: einen Gedanken, eine Idee, länger behalten zu können, um sie selbst als Objekt des weiteren Denkens zu nutzen?“, sagt Helmstaedter. Die Wirkung dieser Netzwerke, und ihre mögliche Störung in psychiatrischen Erkrankungen muss nun untersucht werden. „Und das komplette Fehlen von derartigen Netzwerken in heutiger „AI“ mag Ansporn sein, diese Erfindungen der Evolution auf ihren Wert für neuartige künstliche Intelligenz zu überprüfen“, fügt Helmstaedter hinzu.

Die Kartierung eines dichten Netzwerks im menschlichen Kortex zeigt ein großes Interneuron-zu-Interneuron-Netzwerk, das in der Maus fast nicht vorhanden ist. Dieses neuartige neuronale Netzwerk könnte eine wichtige evolutionäre Erfindung im menschlichen Kortex darstellen.<br />&nbsp;

Die Kartierung eines dichten Netzwerks im menschlichen Kortex zeigt ein großes Interneuron-zu-Interneuron-Netzwerk, das in der Maus fast nicht vorhanden ist. Dieses neuartige neuronale Netzwerk könnte eine wichtige evolutionäre Erfindung im menschlichen Kortex darstellen.
 
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