Der Raum bestimmt die Ordnung
Forscher untersuchen historische Entwicklungen des Periodensystems der Elemente
In den 1860er Jahren stellten die Chemiker Lothar Meyer und Dmitri Mendelejew unabhängig voneinander das erste Periodensystem vor. Seitdem gilt die auch aus dem Schulunterricht bekannte tabellarische Anordnung der Elemente als Leitbild der Chemie. Ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften und des Interdisziplinären Zentrums für Bioinformatik der Universität Leipzig liefert auf Grundlage umfangreicher Datensätze der Chemie-Datenbank Reaxys computergestützte Ansätze, welche die Formulierung der ersten Periodensysteme der Elemente erklären. Ihre Ergebnisse sind sowohl für die Wissenschaftsgeschichte als auch die künftige Entwicklung chemischen Wissens relevant.
In ihrem kürzlich in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlichten Artikel blicken die Wissenschaftler auf die Anfänge des Periodensystems chemischer Elemente zurück, dessen Struktur durch ein Geflecht von Ähnlichkeits- und Ordnungsbeziehungen zwischen den Elementen gekennzeichnet ist. Periodensysteme entstanden aus dem Wissen über die zum damaligen Zeitpunkt bekannten existierenden oder potentiell möglichen chemischen Elemente und Verbindungen. Die Gesamtheit dieser Komponenten bildet den sogenannten chemischen Raum. Ordnungsbeziehungen zwischen den Elementen wurden ursprünglich auf Basis von deren Atomgewichten aufgestellt, während Ähnlichkeiten in Bezug auf Gemeinsamkeiten in der chemischen Zusammensetzung betrachtet wurden. So wie das Wissen über chemische Stoffe im Laufe der Wissenschaftsgeschichte wuchs, so entwickelten sich auch potentiell mögliche Periodensysteme, beeinflusst durch den Zustand des chemischen Raumes der Zeit, immer weiter.
„Uns reizte die Frage, wie die Ausdehnung des chemischen Raumes zur Entstehung der ersten Periodensysteme beigetragen hat. Hierüber war bis dato wenig bekannt. Also haben wir insbesondere den chemischen Raum zwischen 1800 und 1869 untersucht und hinterfragen, wie gut das Periodensystem mit den chemischen Daten zum Zeitpunkt seiner Formulierung übereinstimmt“ beschreibt Guillermo Restrepo, Projektleiter am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften die Ziele des Forscherteams.
Expansion des chemischen Raumes zwischen 1800 und 1869
Ihre Analysen der Kenntnisse über den chemischen Raum deckten auf, dass das Periodensystem der chemischen Elemente bereits in den 1840er-Jahren zu einer deutlich sichtbaren Grundstruktur konvergierte und somit bereits etwa zweieinhalb Jahrzehnte vor seiner Formulierung im Raum kodiert war.
Das erste Viertel des 19. Jahrhunderts war durch eine rasche Entdeckung chemischer Elemente und ihrer Verbindungen gekennzeichnet und führte zu einer instabilen Periode mit verschiedenartigsten Periodensystemen, von denen nur einige wenige den Test der Zeit bestanden. 1826 verlangsamte sich die Entdeckung von Elementen, so dass die Chemiker die Eigenschaften der bekannten Stoffe weiter erforschen und Verbindungen entdecken konnten, die neue Valenzen und damit neue Ähnlichkeiten zwischen den chemischen Elementen aufwiesen. Diese Erkenntnisse blieben über Jahre bestehen und sorgten für eine Konsolidierung des chemischen Raumes und damit für recht stabile Periodensysteme. Zwischen 1835 und 1845 näherte sich das Periodensystem weiter an seine Grundstruktur an, die letztendlich in den 1860er-Jahren enthüllt wurde.
Einfluss der organischen Chemie
Wilmer Leal, Doktorand am Max-Planck-Institut und der Universität Leipzig, umschreibt die wesentliche Rolle der organischen Chemie für die Formulierung des Periodensystems: „Das Aufkommen der organischen Chemie in den 1830er-Jahren spielte eine Schlüsselrolle bei der Erkennung von Ähnlichkeiten zwischen Elementen, die im chemischen Raum massiv vertreten sind, wie Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und Schwefel, und zwischen Metallen, die oft mit organischen Verbindungen assoziiert sind, wie Natrium, Kalium, Palladium, Platin, Barium und Calcium. Gleichzeitig verdeckte die Fülle der organischen Verbindungen die Identifizierung von Ähnlichkeiten zwischen Metallen, die im organischen Raum nur schwach vertreten sind."
Was die Periodensysteme von Lothar Meyer und Dmitri Mendelejew betrifft, so konnten sich beide Chemiker bereits damals auf einen ausgereiften chemischen Raum und eine recht stabile Reihe von Atomgewichten stützen. Die von ihnen formulierten Systeme stimmten daher weitgehend mit anderen Periodensystemen überein, die nach der rechnerischen Analyse zu dieser Zeit möglich gewesen wären.
Computergestützte Rekonstruktion des chemischen Raumes
Um den chemischen Raum vor 1869 nachzubilden und die Rolle der im 19. Jahrhundert bekannten Atomgewichte zu berücksichtigen, nutzten die Forscher die Chemie-Datenbank Reaxys und führten auf deren umfangreichen Informationen basierend einen Algorithmus zur Anpassung des chemischen Raums an verschiedene Gewichtssätze ein. Dieser ermöglicht es, aktuelle chemische Formeln so umzuwandeln, dass sie zu jedem beliebigen System von Atomgewichten passen. Er lässt Annäherungen an den chemischen Raum, der den Chemikern der Vergangenheit bekannt war, zu und schätzt daraus entwickelnde periodische Systeme der Zeit ab.
Bei der Analyse der verschiedensten im Laufe der Zeit formulierten Periodensysteme stellte sich zudem heraus, dass deren Struktur hauptsächlich durch die Ähnlichkeiten zwischen den chemischen Elementen bestimmt wurde und weniger durch deren auf Atomgewichten beruhenden Ordnung. „Die Messung dieser Ähnlichkeiten war für uns der schwierigste Teil und die Ergebnisse durchaus überraschend. Bisher nahm man an, dass Periodensysteme nur dann formuliert werden könnten, wenn ein stabiles System von Atomgewichten gegeben ist. Wir konnten jedoch nachweisen, dass selbst die vor 1860 beobachteten instabilen Gewichtszustände bereits recht stabile Periodensysteme hervorbrachten“, so Peter Stadler vom Interdisziplinären Zentrum für Bioinformatik der Universität Leipzig.
Rückblick mit Vision
Die in der Arbeit vorgestellte Methode zur Ermittlung eines periodischen Systems für einen chemischen Raum ist nicht nur auf die Vergangenheit beschränkt, sondern kann auch auf alle möglichen Umgebungen angewandt werden wie beispielsweise die Erforschung chemischer Räume, die unter extremen Druck- und Temperaturbedingungen erzeugt wurden. Die Einführung dieser Methode könnte ein umfassendes Bild der Chemie in Echtzeit liefern, was auch Auswirkungen auf die Lehre und die Zukunft des Fachgebietes hätte. Obwohl ihr Ansatz eher rechnerisch als historisch ist, hoffen die Wissenschaftler, dass er andere Instrumente der Chemiegeschichte sinnvoll ergänzen und zur Wissenserweiterung im Fachgebiet beitragen kann.