„Wir müssen jetzt Wasserstoff-Pipelines bauen“
Ein Gespräch mit Max-Planck-Direktor Robert Schlögl über die Gaskrise und die Energiewende
Der Ukrainekrieg und die drohende Gasknappheit liefern neben der Klimakrise ein weiteres Argument, so schnell wie möglich aus fossilen Energieträgern auszusteigen, und sich vor allem unabhängig von russischen Gas- und Erdöllieferungen zu machen. Wir sprachen mit Robert Schlögl, Direktor am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, darüber, wie er die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung zur Energiewende bewertet, was dafür noch getan werden muss und was die Wissenschaft dazu beitragen kann.
Herr Prof. Schlögl, wie bewerten Sie die Maßnahmen, die angesichts der erwarteten Gaskrise ergriffen wurden?
Als erstes muss man mal sagen, dass die Regierung ziemlich viel unternommen hat. Man kann kurzfristig, glaube ich, nicht sehr viel mehr machen. Aber anstatt zu appellieren, wir sollen die Heizung über Nacht runterdrehen, wäre es besser, den Leuten klar sagen, dass wir durch einen historischen Fehler in eine gefährliche Situation gekommen sind. Den kann man nicht in ein paar Wochen ausbessern. Eine Minute weniger duschen und nachts die Temperatur runterregeln, löst das Problem nicht.
Was ist in der Vergangenheit falsch gemacht worden?
Das ist nicht nur die Abhängigkeit von russischem Gas, wir haben in Deutschland ein Systemproblem. Wir lösen unsere Probleme gerne auf Kosten anderer. Die Regelenergie, die wir für ein stabiles Netz brauchen, beziehen wir aus Frankreich, weil es dort Atomkraftwerke gibt. Und vor zehn Jahren haben wir noch 30 Prozent unseres Erdgases aus Russland bezogen, jetzt sind es 55 Prozent. Da hat man nicht aufgepasst, weil man nur aufs Geld geschaut hat. Jetzt begreift man vielleicht langsam, dass es ein energiepolitisches Dreieck gibt. Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Preis hängen miteinander zusammen. Wenn man sich in dem Dreieck in eine Richtung bewegt, dann werden die beiden anderen Richtungen automatisch schlechter.
Was muss also getan werden, um uns über den Winter zu bringen?
Man muss die Kohlekraftwerke hochfahren, damit man alles Gas, das nicht zum Heizen gebraucht wird, im Sommer in den Speicher füllen kann. Ein Füllstand von 60 Prozent ist alarmierend, das reicht nicht. In sechs Wochen ist das Fenster zu. Bis Ende August hat man Zeit, die Speicher zu füllen, nicht bis November. Denn im November laufen alle Heizungen.
Soll man auch die Atomkraftwerke weiterlaufen lassen?
Nein, auf keinen Fall – Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen ist Unsinn. Da gibt es drei Argumente dagegen: Erstens haben die Unternehmen die ganzen Materialien nicht mehr, um die AKW länger laufen zu lassen, auch wenn die vorhandenen vielleicht noch ein paar Monate länger reichen. Zweitens gibt es wahrscheinlich keine Arbeitskräfte mehr, weil man allen wichtigen Leuten in den AKWs zum Jahresende gekündigt hat. Und drittens muss man den politischen Schaden bedenken, wenn man zum dritten Mal eine Rolle rückwärts macht. Nein, das geht nicht. Die AKWs können fünf Prozent unserer Stromversorgung beitragen. Da kann ich auch zwei Kohlekraftwerke anschmeißen.
Klimapolitisch ist das aber natürlich nicht sinnvoll.
Wir emittieren 1000 Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Wenn da noch zwei Millionen dazukommen, ist das völlig egal. Da muss man die Symbolpolitik von der Realität trennen. Wenn man nukleare Energie als einen Bestandteil der Energieversorgung zur Sicherung verwenden würde, wie das in Frankreich der Fall ist, wäre das etwas anders. Wir haben in einem demokratischen Prozess beschlossen, dass wir keine AKWs wollen – auch wenn das wissenschaftlich anfechtbar ist. Aber da jetzt eine Rolle rückwärts zu machen, würde, glaube ich, den sozialen Frieden in diesem Land aufkündigen. Das ist eine Scheintoten-Debatte, die von den wirklichen Problemen ablenkt.
Welche sind das?
Wir müssen schnellstens unsere Infrastruktur auf Vordermann bringen. Alle reden von erneuerbaren Energieträgern. Aber für die Tausenden von Windrädern, die jetzt gebaut werden sollen, gibt es keine Stromleitungen. Und für den grünen Wasserstoff, den wir kaufen wollen, gibt es keine Pipelines. Zumindest beginnt jetzt der Bau der Suedlink-Leitung von Nord- nach Süddeutschland, die schon vor zwölf Jahren versprochen wurde. Und sie kostet jetzt 25 bis 30 Milliarden statt 3 bis 4 Milliarden Euro, weil man die Leitung als Kabel in die Erde legt, damit man keine Masten sieht. Aber man wird die Stromleitungen auch so genau sehen, weil die Kabel so heiß werden, dass es an der Oberfläche 70 Grad warm wird und sich dort ein Wüstenstreifen bildet. Das war ein politischer Kompromiss, den Herr Seehofer durchgesetzt hat, der sachlich einfach nicht gerechtfertigt war. Das können wir uns eigentlich nicht leisten. Die Irrationalität in diesen Planungen ist ein Problem. Mich beunruhigt aber mehr, dass wir keinen Gesamtplan haben.
Was meinen Sie damit?
Es ist auch ein fundamentaler Unsinn, die Energiewende durch das Klimaschutzgesetz in Sektoren aufzuteilen, die wie die Ministerien zugeschnitten sind. Jetzt sind für die Energiewende fünf Ministerien zuständig, und jedes Ministerium macht wegen des Klimaschutzgesetzes irgendwas. Es gibt keine systemische Betrachtung. Das ist selbst dem Bundeskanzler schon aufgefallen. So ein großes Projekt wie die Energiewende braucht eine Steuerung.
Wie macht sich bemerkbar, dass die fehlt?
Das Gesamtsystem muss optimiert werden, nicht einzelne Sektoren, und vor allen Dingen nicht ein Sektor auf Kosten aller anderen. Denn alle Energieträger und alle Anwendungen stehen miteinander in Wechselwirkung, und deswegen auch alle Infrastrukturen. Wir haben ja nicht einmal eine gemeinsame Infrastruktur. In der Situation wollen jetzt alle auf die nicht vorhandene grüne Elektrizität zugreifen. Die einen wollen elektrisch Autofahren, die anderen wollen elektrisch heizen, und die dritten wollen ihre Industrie elektrifizieren. Ein großes Problem dabei ist, dass wir dafür viel mehr grünen Strom brauchen, als es unserem heutigen Strombedarf entspricht. Denn um die Schwankungen von Wind und Sonne auszugleichen, muss man ungefähr 50 Prozent der Energie speichern. Wind- oder Sonnenstrom in eine speicherfähige Form umzuwandeln, kostet aber viermal mehr Energie als sie direkt zu verwenden. Die Leute, die die Energiewende verantworten, sagen aber, dass wir auch künftig nur so viel Energie haben können wie jetzt.
Müssen wir also unseren Energiebedarf senken?
Die Energie ist nicht begrenzt, aber die Gesellschaft begrenzt sie. In Zukunft schreibt Ihnen vielleicht jemand vor, dass Sie nur 1000 Kilowattstunden verbrauchen dürfen. Denn wir laufen auf ein Energiesystem zu, das bewusst auf Autarkie ausgelegt ist. Deshalb lesen Sie überall, dass der Bedarf an Primärenergie halbiert werden muss. Aber das ist natürlich Blödsinn. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft darf Ihnen niemand Ihren Energieverbrauch vorschreiben. Das Energiesystem muss so gebaut sein, dass es allen Sparten die Energie zur Verfügung stellt, die sie brauchen.
Ist das der Grund, warum Sie immer wieder für einen globalen Markt der erneuerbaren Energien werben?
Ja, genau. Aber die Energiewende, die jetzt politisch vertreten wird, geht nicht von einem globalen Energiemarkt aus, sondern von Unabhängigkeit. Das Streben nach Autarkie ist aber ein grober systemischer Fehler. Unser Land ist Exportweltmeister. Wie können wir denn autark sein? Wenn wir das versuchen, bricht unser Land sofort zusammen. Wir brauchen einen globalen Markt für erneuerbare Energie, nicht Autarkie.
Aber gerade die Abhängigkeit vom russischen Gas und die Tatsache, dass man sich jetzt mit anderen zweifelhaften Staaten arrangieren muss, ist doch jetzt ein Problem. Da ist das Streben nach Autarkie doch verständlich.
Dieses Argument habe ich schon sehr oft gehört, aber das ist ja vollkommen unzutreffend, weil die Situation eine völlig andere ist. Man muss den Import von Energie diversifizieren. Und das ist mit erneuerbarer Energie viel leichter möglich als mit fossiler. Denn die fossilen Energieträger bekommt man nur daher, wo eine Quelle ist. Erneuerbare Energie in transportierbarer Form kann man besonders effizient in einem Streifen plus/minus 20 Grad um den Äquator erzeugen. Da liegen 60 Prozent der Landmasse der Erde. Schon die Hälfte der Landfläche von Saudi-Arabien würde reichen, um den Energiebedarf der gesamten Welt zu decken. Bei uns geht das nicht so effizient, weil wir außerhalb dieser günstigen Zone liegen.
Sollten wir die regenerative Stromerzeugung dann bei uns massiv ausbauen?
Wir sollten die Energiewandlung, also zum Beispiel Fotovoltaik, Windturbinen und die Wasserstofferzeugung, bei uns in sinnvollen Dimensionen ausbauen. Aber es ist ehrlich gesagt dumm, bei uns die ganze Energie zu wandeln, die wir brauchen. Wir haben jetzt schon die höchste Dichte an Energiewandlern auf der ganzen Welt und damit decken wir nur zehn Prozent des Bedarfs. Wir müssten alles also zehnmal so dicht mit Solaranlagen und Windrädern zupflastern, um den ganzen Bedarf zu decken. Aber wir wollen doch nicht in einem landesweiten Windpark leben. Und das ist auch nicht nötig. Die Sturheit der Politik in dieser Hinsicht kritisiere ich wirklich stark. Die Energie dort zu erzeugen, wo es am effizientesten ist, würde das Problem lösen.
Wie sieht man das in anderen Ländern, vor allem denen, die uns künftig die Energie liefern sollen?
Die Welt wird diesen Weg gehen, egal ob die Deutschen das wollen oder nicht. Warum setzen wir uns nicht an die Spitze dieser Bewegung, anstatt das verhindern zu wollen. Wir haben ja jetzt auch einen globalen Energiemarkt, und den wird es immer geben. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die heutigen Akteure sich das einfach wegnehmen lassen – natürlich nicht, auch weil Energie einen großen Machtfaktor darstellt. Es gibt ja de facto keinen Mangel an Energieträgern auf dieser Welt. Die Knappheit, die wir gerade erleben, ist nur auf Spekulation und Politik zurückzuführen. Putin verkauft jetzt seine Energieträger irgendwem anders als uns und der, der die gekauft, kauft sie dann nicht mehr in Amerika. Aber deswegen ist doch der Verbrauch nicht anders geworden, und das Angebot ist auch nicht anders geworden, sondern nur die Spekulation ist anders geworden. Daran sieht man, welche Macht dahintersteckt.
Wie kann man diese Macht begrenzen?
Wir müssen als ein Land, das immer ein Nettoimporteur von Energie bleiben wird, dafür sorgen, dass in diesem globalen Markt möglichst viele Spieler mitspielen. Diversifizierung ist also die Aufgabe.
Gibt es in der Wissenschaft schon systemische Konzepte?
Das Bundesforschungsministerium hat vor zwei Jahren das Projekt TransHyDE aufgesetzt, das ich koordiniere. Darin untersuchen wir den Transport von Wasserstoff für Deutschland. In einem großen Teilprojekt geht es dabei um die Systemanalyse. Da entwickeln ungefähr 40 Unternehmen und 250 Leute systemische Konzepte. Auch die Betreiber heutiger Pipelines haben solche Konzepte. Die wollen die Gaspipelines künftig mit Wasserstoff füllen. Das geht aber nicht, weil es nicht so viel Wasserstoff gibt, dass sich das Erdgas von einem Tag auf den anderen ersetzen lässt. Wir sind in Deutschland toll darin, schnell aus etwas auszusteigen. Dann überlegen wir erst, wo wir einsteigen. Das ist auch ein Webfehler unserer Energiewende. Man muss aber erst in etwas Neues einsteigen, und wenn das funktioniert, schaltet man das alte ab.
Das heißt, man sollte für den Wasserstoff neue Pipelines bauen?
Ja genau, wir müssen jetzt Wasserstoff-Pipelines bauen, damit wir sie in fünf Jahren haben.
Aber eine Idee ist doch, die alten Erdgaspipelines für den Wasserstoff zu verwenden.
Dann müssen Sie aber warten, bis der Wasserstoff da ist, und das dauert noch 20 Jahre. Bis dahin sind die alten Pipelines 40 Jahre alt – dann kann man sie nicht mehr verwenden. Es ist doch unsinnig zu glauben, dass man einfach den Gashahn abdrehen kann. Gas trägt etwa ein Drittel zum gesamten deutschen Energiesystem bei. Die erneuerbaren Energien liefern aber nur zehn Prozent davon. Das passt also quantitativ nicht. Man muss jetzt mal warten, bis wir 500 Terawattstunden Wasserstoff verfügbar haben. Das ist eine irrsinnig große Menge. Wir haben heute 800 Terawattstunden Erdgas, soviel Wasserstoff wird es vielleicht in 20 Jahren geben – aber für die ganze Welt. Um das russische Gas durch Wasserstoff zu ersetzen, müssten alle Fabriken auf der Welt, die Elektrolyseure herstellen, 40 Jahre lang Elektrolyseure produzieren, damit man das ersetzen kann – aber nur für Deutschland.
Hat der Umstieg auf Wasserstoff, für den Sie immer plädieren, dann überhaupt eine Chance?
Der Umstieg auf Wasserstoff hat keine Chance, wenn man sagt, wir wollen das in zwei Jahren machen. Aber wir wollen das in 20 Jahren schaffen, dann funktioniert es schon. Wenn man aber nicht anfängt, dauert es 20 Jahre plus X. Die meiste Zeit verliert man in einem so großen Projekt am Anfang. Wenn die Bagger rollen, dauert es halt solange es dauert. Aber das Reden darüber, ob wir die Bagger rollen lassen, das kann man beschleunigen.
Derzeit hat man den Eindruck, dass sehr viel unternommen wird. Herrscht jetzt hektischer Aktionismus?
Ja, aber das geht auch nicht anders. Stellen Sie sich mal vor, was Herr Habeck seit dem Ukrainekrieg für eine Verantwortung trägt – meine Güte. Er sieht auch die Notwendigkeit einer systemischen Betrachtung. Der weiß das alles genau, was ich jetzt gesagt habe – das weiß ich. Aber Politik ist die Kunst des Machbaren, nicht die Kunst des Notwendigen. Und da haben auch wir als Wissenschaft schon eine Verantwortung, faktische Aufklärung zu betreiben. In unserer Demokratie sind Politikwechsel nur über das Verständnis des Problems möglich, das kann man nicht anordnen.
Wie kann die Grundlagenforschung der Max-Planck-Gesellschaft zur Energiewende beitragen? Kann die Kernfusion dabei helfen?
Aktuell kann die Kernfusion uns natürlich nicht helfen, sie ist etwas fürs 22. Jahrhundert. Trotzdem muss man das natürlich verfolgen. Aber im Maschinenraum der wirklichen Technik gibt es eine Million von wissenschaftlichen Schwierigkeiten. Katalysatoren werden zum Beispiel überall gebraucht, die meisten funktionieren aber nicht richtig. Dadurch verlieren wir wahnsinnig viel Energie. Bei den Umwandlungsprozessen in chemische Energieträger, die wir für einen globalen Energiemarkt brauchen, ist noch viel zu tun. Und da tun wir in der Max-Planck-Gesellschaft auch viel. Was uns zum Beispiel fehlt, ist eine Wissenschaft der chemischen Konversion, die so funktioniert wie die Entwicklung von Computerchips. Die designt heute ein Computer – für einen Menschen ist das viel zu kompliziert. Eine chemische Reaktion kann aber bislang niemand auf der Welt als Ganzes berechnen, weil es zu kompliziert ist. Diese Komplexität mit neuen Konzepten in der theoretischen Chemie zu reduzieren, ist ein lohnendes Ziel für die Max-Planck-Gesellschaft.
Das wirkt jetzt recht kleinteilig.
Gemessen an den Herausforderungen der Energiewende ist das natürlich kleinteilig, aber in vielen Fällen haben wir die wissenschaftlichen Grundlagen der Energiewende noch gar nicht. Nur geht es hier eben nicht nach dem Leitspruch von Max Planck, dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen. Wir müssen jetzt erst einmal anfangen und suchen dann das Optimum. Das Fehlen des Wissens ist keine Entschuldigung, nichts zu tun. Die Gegner der Energiewende sagen oft, wenn Ihr das alles rausgefunden habt, dann machen wir Energiewende. Das ist aber ganz falsch.
Das Interview führte Peter Hergersberg