Eine Entscheidung fürs Leben
Migration verändert die Gesellschaftsstruktur in Europa seit Jahrzehnten massiv. Doch wie fühlt es sich eigentlich an, in einem neuen Land älter zu werden? Und zahlt sich das Wagnis Migration für die Menschen letztlich aus? Diesen Fragen sind Stefan Gruber und Gregor Sand am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik nachgegangen.
Text: Sabine Fischer
Für Barbara und Andrzej Klimczyk ist Deutschland eine Geschichte, die an einer Autobahnausfahrt begann. Eigentlich wollte das Ehepaar 1986, nach zwei Jahren in Algerien, in seine Heimat nach Polen zurückfahren. Doch auf dem Rückweg entschieden sich die beiden anders – und trafen damit eine Entscheidung für ihr ganzes Leben.
„Wir hatten viele gute Jahre in Polen“, erinnert sich Barbara Klimczyk, heute in ihren Siebzigern, und blättert in einem dunkelgrünen Fotoalbum. Gemeinsam mit ihrem Mann Andrzej sitzt sie in ihrem Wohnzimmer in Gerlingen, Baden-Württemberg, in einem Polstersessel, den sie vor vielen Jahren aus dem Elternhaus in Gliwice, Oberschlesien, nach Deutschland gebracht hat. In dem Album auf ihrem Schoß bewahrt sie viele Erinnerungen an die Zeit in ihrem Heimatland auf: Fotos, auf denen sie im kurzen Kleid selbstbewusst vor dem Traualtar steht. Eine Nahaufnahme lachender Freundinnen an einer großen Festtafel. Bilder, die Andrzej einst von ihrer gemeinsamen kleinen Tochter beim Spielen machte. In Polen arbeitete er als Architekt und Cartoonist, sie war an der Universität tätig und beschäftigte sich mit russischer Literatur. Ihr Freundeskreis bestand aus Schöngeistern und Menschen mit einem Sinn für Kunst – ein Leben, geprägt von intellektuellem Austausch.
Doch als 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde, änderte sich der Alltag des Paares schlagartig. Die Wirtschaft lag brach, irgendwann konnte man im Supermarkt nicht einmal mehr Kaffee kaufen. Andrzejs kritische Zeichnungen wurden vor jeder Veröffentlichung so bearbeitet, dass ihre Aussagen völlig verloren gingen. „Dazu kam, dass die Luft im Industrienebel von Gliwice voll von Schwermetallen und Dämpfen waren. So sollte unsere Tochter nicht aufwachsen“, sagt Andrzej Klimczyk und fügt hinzu: „Wir haben von einem Tag auf den anderen im Kriegszustand gelebt. Dabei sind wir Menschen, die Freiheit brauchen.“ Der Schritt, nach einem Arbeitsaufenthalt in Algerien die Ausfahrt in Deutschland zu nehmen, fiel den beiden vor diesem Hintergrund also nicht schwer. Ihre Hoffnung: ein Leben in Freiheit in einem demokratischen System.
Hoffnung auf bessere Lebensumstände
Ähnliche Abwägungen wie das Ehepaar Klimczyk treffen viele Menschen, die sich dazu entscheiden, ihr Heimatland zu verlassen. „Eine der Hauptmotivationen für Migration ist die Hoffnung, das eigene Wohlbefinden und die eigenen Lebensumstände zu verbessern“, erklärt Stefan Gruber vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Gemeinsam mit seinem Kollegen Gregor Sand beschäftigt er sich im Rahmen zweier Studien mit der Frage, wie sich die Entscheidung, das Heimatland zu verlassen, im Laufe eines Lebens auf die Menschen auswirkt, die sie getroffen haben. Die beiden Wissenschaftler sind speziell der Frage auf den Grund gegangen, ob sich Migrantinnen und Migranten im Alter von über fünfzig Jahren in ihrer neuen Heimat wohlfühlen.
Den Wunsch nach einer neuen Zukunft hatte auch Domagoj Vlasic, als er Mitte der 1990er-Jahre das erste Mal nach Deutschland kam. Bei ihm war es der Jugoslawienkrieg, der sein Leben massiv erschütterte: Vier Jahre lang wurde der gebürtige Kroate zwangsweise als Soldat verpflichtet. Eine Erfahrung, die nicht nur seine Lebensplanung auf den Kopf stellte, sondern auch Spuren hinterließ. Nach seinem Militäreinsatz kamen bei Vlasic die Schlafstörungen. Die Traumata. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Bevor der Krieg seine Pläne durcheinanderwirbelte, hatte Domagoj Vlasic in seinem Heimatort im heutigen Kroatien Aussichten auf eine Karriere als Profifußballer gehabt. Genau diese Perspektive eröffnete ihm nun den Weg in ein neues Leben: „Ich bekam glücklicherweise die Chance, für einen Fußballverein ins Ausland zu gehen“, erinnert er sich.
Über Umwege gelangte der damals 23-Jährige schließlich an einen Vertrag bei einem Fußballverein in Radolfzell am Bodensee und kam so das erste Mal in Berührung mit einer Kultur, die ihm bis dahin vollkommen fremd war. „Ich sprach kein Wort Deutsch, das war am Anfang wirklich schwierig“, sagt er. Heute ist seine Aussprache geprägt von einer Mischung aus kantig osteuropäischer Betonung und weichem, rundem Schwäbisch. Daran, sein Leben von nun an in Deutschland zu verbringen, dachte er damals noch nicht. Der Schritt ins Ausland bedeutete für ihn zunächst einmal eine Perspektive auf ein besseres Leben.Seit Jahrzehnten verändert Migration die Gesellschaftsstrukturen in Europa. Mehr als jede vierte Person in Deutschland hat laut einer Auswertung der Bundeszentrale für politische Bildung 2020 einen Migrationshintergrund – eine Zahl, die geradezu sinnbildlich für das Ausmaß von Migrationsbewegungen in und nach Europa steht. Viele Migrantinnen und Migranten leben viele Jahre in ihrem neuen Heimatland, machen dort Erfahrungen und prägen die Gesellschaft oft entscheidend mit. Doch wie fühlt es sich an, in einem Land älter zu werden, in dem man nicht geboren wurde? Kommen die Menschen in ihrer neuen Heimat wirklich an? Wie stehen sie zu ihrer früheren Entscheidung auszuwandern? Und hat sich das Ganze für sie wirklich ausgezahlt?
Die Antworten, welche die Wissenschaftler im Rahmen ihrer beiden Studien auf diese Fragen gefunden haben, sind eindrücklich: Vergleicht man das Wohlbefinden von Menschen, die von einem europäischen Land in ein anderes migriert sind, mit dem Wohlbefinden jener, die im jeweiligen Herkunftsland geblieben sind, zeigen sich positive Effekte der Migration: „Migrierte Personen – wir haben uns auf innereuropäische Migration beschränkt – weisen ein signifikant höheres Wohlbefinden auf als Menschen, die nicht ausgewandert sind. Hier scheint sich die Migrationsentscheidung in den meisten Fällen gelohnt zu haben“, sagt Gruber.
„Dass wir nach Deutschland gekommen sind, betrachten wir heute als richtig“, sagt auch Andrzej Klimczyk. Und das, obwohl die junge Familie, die 1986 als Spätaussiedler in Deutschland anerkannt wurde, keinen ganz einfachen Start hatte. Zwar spricht Barbara Klimczyk, die zur deutschen Minderheit in Oberschlesien gehörte, schon seit ihrer Kindheit neben Polnisch auch Deutsch. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis sich das Paar in der neuen Heimat eingelebt hatte. Nach Stationen im Grenzdurchgangslager Friedland und in Aachen fand Andrzej in Stuttgart schließlich einen Job als Architekt, Barbara brachte dort anderen Ausgesiedelten Deutsch bei. Auch die Liebe zu Kunst und Kultur begannen sie hier wieder auszuleben: „Wir gehen gerne in Kunstausstellungen und zu Lesungen, besonders im tollen Stuttgarter Literaturhaus. So haben wir uns allmählich mit Menschen vernetzt. Das hat uns das Ankommen viel leichter gemacht“, sagt Barbara Klimczyk.
Dass er sich in Deutschland zu Hause fühlt, merkte Domagoj Vlasic hingegen geradezu beiläufig. Eine Zeit lang lebte er nahe der Schweizer Grenze und unternahm immer wieder Ausflüge in das Nachbarland. Dort kam ihm schließlich eine Erkenntnis: „Ich dachte mir jedes Mal: Nein, das sind einfach nicht meine Leute. Es ist zwar schön hier, aber ich will auch gerne wieder zurück nach Hause – und damit meinte ich Deutschland“, so Vlasic. Nach den Erkenntnissen von Stefan Gruber und Gregor Sand hängt dieses Gefühl des Angekommenseins von vielen Faktoren ab. Für seine Untersuchungen nutzt das Forschungsduo Ergebnisse aus dem Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), für den 105 000 Menschen aus elf europäischen Ländern zu verschiedenen Themen befragt wurden. Rund acht Prozent von ihnen gelten als Migrantinnen und Migranten – sie leben zum Zeitpunkt der SHARE-Interviews also in einem Land, in dem sie nicht geboren wurden. „Der Datensatz beschränkt sich nicht exklusiv auf Menschen, die migriert sind, die Personenzahl ist jedoch groß genug, dass man sinnvolle Schlüsse ziehen kann“, erläutert Gruber. Besonders spannend: Die meisten Menschen, die im SHARE-Datensatz einen Migrationshintergrund aufweisen, sind bereits vor langer Zeit ausgewandert. Durchschnittlich leben sie seit vierzig Jahren in ihrer neuen Heimat – für Grubers und Sands Forschungsanliegen optimal: „Ob sich ihre Lebensumstände verbessert haben, kann man messen – im ökonomischen und im nichtökonomischen Bereich“, so Sand.
Zahlt sich Migration in Europa aus?
Dazu nahmen die Wissenschaftler im Datensatz den sogenannten CASP-Index unter die Lupe – eine Skala, die anhand der Faktoren Kontrolle, Autonomie, Selbstverwirklichung und Freude (control, autonomy, self-realization, pleasure) die Lebensqualität von Menschen misst. „Es werden dafür zwölf Items abgefragt. Zum Beispiel, ob die Personen sich auf den nächsten Tag freuen oder ob sie das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr Leben zu haben und Dinge tun zu können, auf die sie Lust haben“, erklärt Stefan Gruber.
Dafür, dass die Menschen im Alter in ihrer neuen Heimat glücklich sind, seien individuelle und soziale Aspekte ebenso entscheidend wie die finanzielle Situation: „Es ist wichtig, welche Position die Menschen mit ihrem Einkommen im Zielland erreicht haben“, so Gregor Sand. Genau hier liegt eine entscheidende Einschränkung, was die positiven Effekte von Migration angeht: Auch wenn Migrantinnen und Migranten meist deutlich zufriedener sind als Menschen in ihrem Herkunftsland, fällt der Vergleich mit den Einheimischen in ihrem Zielland oftmals negativ aus. Wer ausgewandert ist, dessen Wohlergehen ist im Durchschnitt messbar geringer als das eines Menschen, der im Land aufgewachsen ist. „Hier spielt die finanzielle Situation eine große Rolle“, sagt Gruber. „Aber auch andere Faktoren – etwa ob die Personen die Staatsbürgerschaft des Landes haben – beeinflussen, wie glücklich sie heute sind.“
Schaut man genauer hin, weisen die Ergebnisse zudem einige Feinheiten auf. Vor allem mit Blick auf die Herkunft und das Alter der Befragten erkennen die Wissenschaftler deutliche Abweichungen: „Wenn etwa jemand aus Nord- oder Zentraleuropa nach Schweden auswandert, unterscheidet sich sein Wohlbefinden nicht signifikant von dem der Einheimischen“, so Sand. Der Unterschied zwischen Einheimischen und Eingewanderten zeige sich vor allem bei Menschen aus süd- oder osteuropäischen Ländern. Und er ist wesentlich vom Alter der befragten Personen abhängig. Kurz gesagt: Je älter sie werden, desto kleiner wird der Unterschied. Das liege allerdings nicht daran, dass Migrantinnen und Migranten im hohen Alter glücklicher würden, sondern sei eher darauf zurückzuführen, dass andere Faktoren entscheidender werden als die Migration, so Gruber und Sand. „Das Wohlbefinden sinkt bei allen Befragten mit zunehmendem Alter, bei den Einheimischen im Verhältnis stärker als bei den migrierten Personen, sodass sich die fallenden Kurven beider Gruppen langsam annähern “, sagt Gregor Sand.
Wie zufrieden Menschen aus dem Ausland in einer Gesellschaft werden können, hängt zumeist auch entscheidend von der Integrationspolitik des jeweiligen Landes ab. Wie hoch sind die Hürden? Wie offen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Gesundheitswesen? Zu Bildung, Kultur, Staatsbürgerschaft? „Um diesen Einfluss zu verstehen, haben wir auch die Integrationspolitik verschiedener Länder unter die Lupe genommen“, so Gruber. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist eindeutig: Länder, die eine offene Integrationspolitik betreiben, tragen mit diesem Kurs aktiv dazu bei, dass sich die Lücke in Sachen Zufriedenheit zwischen Eingewanderten und Einheimischen schließt.
„Für uns lassen sich daraus drei große Lehren für bessere Integration ziehen“, schließt Stefan Gruber. Um für ein höheres Wohlbefinden zu sorgen, sei es zum einen wichtig, dass Länder für Migrierte und Einheimische auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Zugangsmöglichkeiten schaffen. Außerdem sollten sie den Zugang zur Staatsbürgerschaft möglichst leicht machen und Möglichkeiten bieten, die Familien der Migrantinnen und Migranten ohne hohe bürokratische Hürden nachzuholen. Diese Empfehlungen an die Politik haben laut den beiden Wissenschaftlern konkrete Auswirkungen auf die Gesellschaft. Denn je wohler sich Menschen in einem Land fühlen, desto besser sind sie integriert – und desto stärker engagieren sie sich, tragen zur Gesellschaft bei und prägen diese mit. Das habe unter anderem zur Folge, dass Sozialsysteme entlastet werden, und gestalte das Zusammenleben vielfältiger, so Gruber und Sand.
Überzeugte Europäer, weltoffen und interessiert
Sich in der Gesellschaft optimal einbringen zu können, ist auch für Barbara und Andrzej Klimczyk wichtig. Beide sehen sich als Europäer, sind weltoffen und interessiert. „Wir haben hier die Möglichkeit, Menschen und Dinge kennenzulernen, die wir sonst nicht gehabt hätten“, sagt Andrzej Klimczyk. Heute engagieren sie sich in der deutsch-polnischen Gesellschaft und haben sich auch in Gerlingen einen vielseitig interessierten Freundeskreis aufgebaut, der – bis auf einige enge Beziehungen aus Jugendtagen – zum Großteil aus Menschen in ihrer direkten Umgebung besteht.
Domagoj Vlasic hat sich in Deutschland inzwischen ebenfalls einen großen Freundeskreis und eine eigene Familie aufgebaut. Wenn er sein Leben mit dem seiner Bekannten vergleicht, schaut er in beide Richtungen: Wie geht es ihm im Vergleich zu seinen deutschen Nachbarinnen und Nachbarn? Und wo steht er im Vergleich zu Bekannten in Kroatien? Beide Male ist er zufrieden mit dem, was er erreicht hat. „Ich bin glücklich hier. Aber langsam wünsche ich mir etwas weniger Hektik in meinem Leben – die Möglichkeit, mit meinen eigenen Händen Gemüse anzubauen, mich zu entspannen“, sagt er. Seinen Lebensabend möchte er deshalb gemeinsam mit seiner Ehefrau gerne in Kroatien verbringen, in der Nähe des ehemaligen Bauernhofs seiner Eltern. Ein dauerhafter Abschied von Deutschland solle das allerdings nicht werden. „Das Land ist mein Zuhause geworden. Spätestens wenn es im Winter in Kroatien langweilig wird, werde ich wohl wieder auf den Weihnachtsmarkt nach Deutschland fahren.
Auf den Punkt gebracht
Wer innerhalb Europas auswandert, profitiert im Vergleich zu den Daheimgebliebenen: Migrantinnen und Migranten sind im Durchschnitt finanziell besser gestellt und zufriedener als ihre ehemaligen Landsleute.
Im Vergleich zur angestammten Bevölkerung haben Eingewanderte allerdings oft weniger Geld und fühlen sich weniger wohl.
Die Politik kann zur Zufriedenheit beitragen, indem sie den Zugang zu Arbeitsmarkt und Staatsbürgerschaft öffnet und Familiennachzug erleichtert. Davon profitiert auch die Gesellschaft insgesamt.