Covid-19-Maßnahmen: eine Bilanz
Studie fasst die Wirksamkeit von Beschränkungen zusammen und berücksichtigt dabei auch Verhaltensänderungen der Bevölkerung
Nach rund drei Jahren Coronapandemie debattieren Politik und Gesellschaft immer noch um den richtigen Umgang mit dem Virus. Wie effektiv waren welche Maßnahmen? Und was war vertretbar in Hinblick auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen? Eine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführte Studie untersuchte die Wirksamkeit früher Covid-19-Maßnahmen wie Lockdowns und anderer nicht-pharmazeutischer Interventionen. Die Ergebnisse können Aufschluss über die richtige Balance von Maßnahmen im Umgang mit künftigen Pandemien geben, insbesondere in der entscheidenden Anfangsphase, bevor Impfstoffe entwickelt sind.
„Pan metron ariston“ – alles mit Maß: Mit dieser griechischen Redewendung betitelt Leonidas Spiliopoulos vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung seine aktuelle Studie, die in der Fachzeitschrift BMC Public Health veröffentlicht wurden. Spiliopoulos untersuchte die Wirksamkeit von Lockdowns und anderen nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs) auf die Eindämmung von Covid-19 und die Begrenzung der Todesfälle. Die Studie deckt zwei wichtige Faktoren auf, welche die Dynamik der Pandemie positiv beeinflusst haben: Erstens die freiwilligen Verhaltensänderungen aufgrund der persönlichen Einschätzung des Schweregrads der Pandemie und der Signalwirkung politischer Entscheidungen. Zweitens der beeindruckende Erfolg umfassender Testmaßnahmen, die sowohl den Zuwachs von Covid-19-Infektionen als auch die damit verbundenen Todesfälle deutlich reduziert haben und zwar ohne die mit vielen anderen Interventionen verbundenen negativen sozialen Auswirkungen.
Spiliopoulos analysierte Daten aus 132 Ländern, die zwischen dem 15. Februar 2020 und dem 14. April 2021 erhoben wurden. Der Datensatz enthält Informationen über bestätigte Krankheits- und Todesfälle, Mobilitätsdaten, Testraten und den Covid-19 Stringency Index. Dieser von der Universität Oxford entwickelte Index misst die Härte verschiedener NPIs – darunter Schulschließungen, häuslicher Quarantäne, Absage oder Einschränkung von öffentlichen Veranstaltungen, internationale Reisebeschränkungen und Informationskampagnen – in einem einzigen Maß, um Vergleiche zwischen den Ländern zu erleichtern. Die Skala reicht von 0 (überhaupt keine Einschränkungen) bis 100 (extremste Einschränkungen).
Mäßig harte Maßnahmen mit einem Stringency Index im Bereich von 31 – 40 machten etwa 90 Prozent der maximalen Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Interventionen aus. „In diesem Bereich lagen die positiven Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die aktuelle Pandemiedynamik nahe am praktisch erreichbaren Maximum, während die Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit sowie die wirtschaftlichen Kosten minimiert wurden“, so Spiliopoulos. Dazu zählten Beschränkungen für öffentliche Versammlungen von mehr als 100 Personen, Quarantänevorschriften für Reisende aus Hochrisikogebieten, öffentliche Informationskampagnen, Empfehlungen, wie die, von zuhause aus zu arbeiten, die Absage von Veranstaltungen und Schulschließungen. Die Studie hebt zudem die Bedeutung umfangreicher Tests hervor, mit denen 50 Prozent der Wirkung optimaler Maßnahmen erreicht werden können, ohne dass es zu erheblichen negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft kommt. „Im Hinblick auf eine Neuausrichtung des Policy-Mix für künftige Pandemien sollten wir in Erwägung ziehen, stärker auf frühzeitige umfassende Tests und gezielte öffentliche Kampagnen zu setzen, die Menschen dabei helfen, ihr Verhalten bezüglich der Pandemie freiwillig zu ändern“, so Spiliopoulos.
Überraschenderweise zeigt die Studie auch, dass sich Mobilitätseinschränkungen nicht, wie erwartet, positiv ausgewirkt hatten. Zwei mögliche Erklärungen stützen diese Beobachtung. So könnte einerseits die Verbreitung des Virus außerhalb der Wohnung verringert, die Ansteckung innerhalb der Wohnung allerdings erleichtert worden sein, da Familien oder Mitbewohner mehr Zeit miteinander verbrachten. Andererseits könnten Verhaltensänderungen (wie beispielsweise soziale Distanzierung, Tragen von Masken, Umstieg auf alternative, sicherere Verkehrsmittel) möglicherweise wirksam genug gewesen sein, sodass die Menschen weiterhin zur Arbeit pendeln und in begrenztem Umfang mit anderen in Kontakt kommen konnten, ohne dass es zu einer signifikanten Zunahme der Übertragung kam. Die Studie unterstreicht die Komplexität des Themas und die Notwendigkeit, Hypothesen über die Wirkung politischer Maßnahmen empirisch zu testen. Auch wird deutlich, wie wichtig es ist, Ergebnisse vorheriger Studien auf ihre Gültigkeit zu überprüfen, sobald weitere Daten zur Verfügung stehen.
„Diese Analyse erlaubt es uns, zuverlässigere Schlussfolgerungen zu ziehen im Vergleich zu zahlreichen früheren Studien, da die Daten über einen längeren Zeitraum und in einer Vielzahl von Ländern erhoben wurden“, sagt Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitglied des Expertengremiums, das die deutsche Regierung zur Covid-19-Pandemie berät. „Zu Beginn der Pandemie war die Unsicherheit bezüglich der Übertragung und Sterblichkeit von Covid-19 groß. Vor diesem Hintergrund entschieden sich viele Länder zunächst für eine relativ restriktive Politik“, sagt er. Die Ergebnisse der Studie können für die öffentliche Politik von Nutzen sein, insbesondere im Hinblick darauf, wie künftige Pandemien mit ähnlichen Fall- und Todesraten in der kritischen Phase vor der Entwicklung und Einführung von Impfstoffen bewältigt werden können.