Der Spiegel im Gehirn

14. Januar 2010

Wenn Menschen kooperieren, müssen sie ihre Handlungen ganz genau miteinander abstimmen. Direktor Wolfgang Prinz und seine Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig erforschen, was dabei in den Köpfen vorgeht.

Text: Peter Zekert

Wer ein Duett oder im Ensemble spielen will, muss mit anderen harmonieren. Nur wenn jeder Ton zum Spiel der Musikerkollegen passt, gehen die Klänge ineinander auf. Aber nicht nur Musiker brauchen ein feines Gespür für andere Menschen, sondern jeder von uns im Alltag: Unser tägliches Leben besteht aus einer Abfolge von kleinen und größeren sozialen Interaktionen, in denen wir uns immer wieder intuitiv auf andere Personen einstellen.

Ob wir als Fußgänger entgegenkommenden Passanten ausweichen, jemandem die Hand geben, zu zweit ein Sofa die Treppe hochtragen, tanzen oder Basketball spielen: Jede unserer Handlungen muss dabei mit denen der anderen Menschen abgestimmt sein. Aber woher wissen wir immer so schnell, was diese tun werden? Für solche Basisprozesse des gemeinsamen Handelns interessiert sich Wolfgang Prinz. Der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften erforscht soziales Verhalten auf der Mikroebene. Denn hinter dem täglichen Miteinander steckt viel mehr kognitive Arbeit, als wir bemerken.

Dass sich unsere Handlungen mit denen anderer zu einem Ganzen zusammenfügen, funktioniert zwar meist wie von selbst und fällt uns höchstens auf, wenn es schiefgeht, wenn das Musik­ensemble falsche Töne produziert, unser Pass zum Mitspieler ins Aus geht oder der Fuß auf den Zehen des Tangopartners landet.

Denkprozesse verlängern die Leitung

Genau besehen ist es mehr als erstaunlich, wie wort- und mühelos die Abstimmung im Normalfall gelingt – und das innerhalb von Sekundenbruch­teilen. Dafür genügt es nicht, feine Antennen und eine schnelle Reaktionsfähigkeit zu haben. „Menschen können deshalb so reibungslos mit anderen zusammen agieren, weil sie meistens schon im Voraus wissen, was der andere tun wird“, sagt Wolfgang Prinz.

Hinter dieser Fähigkeit stecken zum großen Teil unbewusst ablaufende Mechanismen, die erst seit einigen Jahren erforscht werden. Denn lange ging man in der Psychologie von einem linearen Schema aus: „Als klassisch galt die Abfolge Perzeption – Kognition – Aktion“, erzählt der Max-Planck-Forscher. Handlungen, die wir bei anderen wahrnehmen, müssten demnach zunächst einen komplexen Denkprozess durchlaufen, um verstanden zu werden.

Daraufhin müssten wir zwischen den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten abwägen und die entsprechenden Bewegungen einleiten, um schließlich zu reagieren. „Für viele der täglichen blitzschnellen Interaktionen wäre dieser Prozess aber schlicht zu langsam“, sagt Prinz.

Er kam früh zu der Überzeugung, dass es eine Abkürzung geben müsse, die von der Wahrnehmung einer Handlung bei anderen direkt zur eigenen Aktion führt. Schon Anfang der 1990er-Jahre formulierte der Wissenschaftler die Theorie des Common Coding, nach der Wahrnehmen und Handeln zumindest teilweise durch gemeinsame kognitive und neuronale Ressourcen verbunden seien.

Anfangs stand er mit dieser Ansicht recht allein da. Doch das änderte sich kurz darauf schlagartig, als bei Makaken-Affen Hirnzellen gefunden wurden, die genau das taten, was Prinz theoretisch vorausgesagt hatte: Die sogenannten Spiegelneuronen wurden bei den Primaten sowohl aktiv, während sie selbst nach einem Stück Obst griffen, als auch dann, wenn sie nur beobachteten, wie ein Artgenosse dieselbe Handlung ausführte. Beim Menschen ist man bis jetzt noch auf der Suche nach den Neuronen mit der Doppelfunktion. Doch dass es sie gibt, gilt als sicher. Auch beim Menschen kann das bloße Wahrnehmen einer Handlung dieselben motorischen Areale aktivieren, die auch für ihre Ausführung zuständig sind.

Die Folgen lassen sich im Alltag beobachten: Jeder hat wohl schon einmal erlebt, wie ansteckend etwa Gähnen oder Lachen wirken können. Auch wenn wir in einem Gespräch die Sitzhaltung und Bewegungen eines Gegenübers betrachten, imitieren wir beides oft unwillkürlich. Das Zentrum des menschlichen Spiegelsystems wird im prämotorischen Kortex vermutet. Dieses Areal hat sich inzwischen in vielen Studien als Dreh- und Angelpunkt zwischen Sinneswahrnehmung und Handlungssteuerung erwiesen.

Alles schon mal im Geist durchspielen

Als direkter Nachbar des motorischen Kortex, des Bewegungszentrums unseres Gehirns, verbindet er den audio­visuellen Input mit der Planung und Ausführung unserer Bewegungen. Deswegen wird ihm eine Schlüsselfunktion zugeschrieben für unseren Umgang mit anderen Menschen.

Heute nimmt man an, dass im prä­motorischen Kortex Simulationsprozesse stattfinden, die uns helfen, das Handeln anderer zu verstehen. „Das Verhalten der anderen wird dabei in Handlungsziele übersetzt“, erklärt Wolfgang Prinz. „Indem man fremdes Tun selbst innerlich durchspielt, wird es schneller verstanden als durch logisches Verstehen. Aus der inneren Simulation lässt sich dann ableiten, was eine Person wahrscheinlich als Nächstes tun wird.“

Wie solche Vorgänge unser Handeln unmerklich beeinflussen, wenn wir uns mit anderen eine Aufgabe teilen, untersuchte erstmals Natalie Sebanz, eine ehemalige Doktorandin von Prinz. Heute erforscht sie das gemeinsame Handeln in einer eigenen Gruppe an der niederländischen Universität Nijmegen. Sie entwarf dafür ein Reiz-Reaktionsexperiment, das sie mal von einer Person allein und mal von zwei Personen zusammen ausführen ließ.

Dabei wurden den Probanden Bilder von einer Hand präsentiert, an deren Zeigefinger entweder ein roter oder ein grüner Ring steckte. Je nachdem, welche Farbe erschien, sollten die Probanden so schnell wie möglich entweder einen Knopf zu ihrer Linken oder zur Rechten drücken. Dabei war eine Schwierigkeit eingebaut: Der Finger trug nicht nur den jeweiligen Ring, sondern zeigte auch nach links oder rechts. „Eigentlich ist die Zeigerichtung des Fingers für die Probanden irrelevant, sie sollen ja nur auf den Farbreiz reagieren“, sagt die Forscherin. Doch räumliche Information lässt sich nicht ausblenden – das ist als der Simon-Effekt bekannt.

Wies der Finger auf dem Bildschirm also nach links, obwohl rechts der Knopf zu drücken war, verzögerte das die Reaktion bei den Probanden. „Dieser Effekt war deshalb für soziale Prozesse interessant“, so Natalie Sebanz, „weil er nur dann auftritt, wenn eine Person für beide Knöpfe zuständig ist.“ Bedient der Proband dagegen nur einen der beiden Knöpfe, verschwindet der Simon-Effekt.

Das Spiel der anderen immer im Sinn

In Sebanz’ Experiment zeigte sich nun, dass der Effekt sofort zurückkehrt, sobald man dem Probanden einen Partner an die Seite setzt. „Wenn der Farbreiz mir sagt, dass ich dran bin, aber der eingeblendete Finger auf die Person neben mir zeigt, dauert es wieder einen Moment länger, bis ich reagiere“, erklärt Sebanz. Zwei Personen zusammen handelten im Experiment so wie eine Person, die zwei Hände zu koordinieren hatte.

Das liegt daran, dass beide Teilnehmer nicht nur ihre eigene Aufgabe im Kopf hatten, sondern auch den Teil, für den der andere zuständig war. Korepräsentation heißt dieses Phänomen: Selbst wenn es sich um eine Aufgabe handelt, bei der es eher hinderlich wirkt, behält man die andere Person auf dem Schirm – und zwar immer. Auch als die Probanden nicht an der Reihe waren, simulierte ihr Hirn die Handlung des anderen mit.

Weil bereits das Beobachten oder Vorstellen der Handlung des anderen die eigenen motorischen Areale für diese Handlung aktiviert, entsteht ein Impuls, die Handlung selbst auszuführen. Damit wir nicht sofort alles imitieren, was wir bei anderen beobachten, muss dieser Handlungsimpuls unterdrückt werden. Die erhöhte Hirnaktivität, die dafür nötig ist, ließ sich im EEG messen.

Für das Leben in sozialen Gruppen könnte die Korepräsentation so grundlegend gewesen sein, dass sie sich im Verlauf der Evolution automatisierte und fest ins Gehirn des Menschen einschrieb, vermutet die Forscherin. „Mit anderen zu kooperieren liegt in unserer Natur.“

Das Sebanz-Experiment schuf die Grundlage für vielfältige Forschungen zum gemeinsamen Handeln. Wie sich Korepräsentation bei geteilten Aufgaben auswirkt, wird in vielen Facetten untersucht. Eine von ihnen ist das gemeinsame Musizieren. Studien mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie haben inzwischen gezeigt, dass die Simulationsaktivität im menschlichen Gehirn dann am stärksten ausfällt, wenn die Handlungen, die wir bei anderen wahrnehmen, auch zu unserem eigenen Handlungsrepertoire gehören. Spielt man etwa musikalischen Laien und geübten Pianisten eine Sonate vor, ist bei Letzteren die Aktivität in den motorischen Arealen deutlich größer als bei den Nichtmusikern – sie spielen innerlich mit.

„Musiker, die mit anderen im Duett oder Ensemble spielen, sind ein gutes Beispiel für komplexe und in Echtzeit ablaufende Koordination beim gemeinsamen Handeln“, sagt Peter Keller, Leiter der Nachwuchsgruppe „Musikkognition und Handlung“ am Leipziger Max-Planck-Institut. Der gebürtige Australier kommt aus einer musikalischen Familie. Die Schwester ist in der Heimat eine gefeierte Jazzpianistin, er selbst studierte erst Posaune, dann Musikwissenschaft. „In den vielen Stunden, die wir damals übten, wurde mir immer klarer, dass gemeinsame Konzerte nicht nur erfordern, das eigene Instrument zu beherrschen, sondern eine komplexe Form sozialen Handelns sind.“

Sich mit anderen Musikern in Einklang zu bringen ist ein sehr anspruchsvoller Prozess, erklärt Keller, weil zwar einerseits zeitlich alles sehr präzise aufeinander abgestimmt sein müsse, die Musiker aber andererseits immer wieder aus dem Regelmäßigen ausbrechen. „Sonst würde ihr Spiel mechanisch wirken, ohne individuellen Ausdruck.“

Wenn sie dann eine Note etwas länger halten, spontan das Tempo wechseln und lauter oder leiser werden, müssen sich alle immer wieder aufs Neue einander anpassen. Das erfordert von den Musikern permanente Aufmerksamkeit – und zwar gleich mehrfach: Nicht nur muss jeder der Spielenden auf die Klänge achten, die er selbst produziert, sondern zugleich auch die der anderen und den Gesamtklang überwachen. „Dafür musste es auch eigene kognitive Ressourcen geben“, sagt Peter Keller.

Jeder ist sein eigener bester Duettpartner

Um herauszufinden, wie sich Musiker untereinander synchronisieren und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es dabei zwischen verschiedenen Situationen wie Klavierduett, Ensemble oder Chor gibt, werden immer wieder Musiker zu kleinen Konzerten ins Labor eingeladen. Dabei wird auf meist kaum hörbare Nuancen geachtet. Die Forscher benutzen für ihre Tests etwa elektrische Klaviere, weil sich Tastendruckzeiten und die Intensität des Tastenanschlags auf diese Weise sehr genau registrieren und sich auch kleinste Asynchronitäten im Spiel erfassen lassen, die es immer gibt und die sich bei guten Musik­ensembles im Schnitt zwischen 30 und 50 Millisekunden bewegen.

So haben die Wissenschaftler vor Kurzem erstmals gezeigt, dass Handlungssimulation auch für zeitliche Koordination von Handlung wichtig ist. Für die Studie spielten Pianisten jeweils einen Part von mehreren für sie bis dahin unbekannten Duetten ein. Einige Monate später wurden sie erneut eingeladen, um den komplementären zweiten Part zu spielen. Mit dem ersten Teil, der vom Band kam, konnten sie sich am besten synchronisieren, wenn es der eigene, von ihnen selbst eingespielte war.

„Das simulierte Timing trifft mit dem tatsächlichen Verhalten dann am besten überein, wenn beide das Produkt desselben kognitiv-motorischen Systems sind“, sagt Keller. Jeder war sein eigener idealer Duettpartner. Wie Keller und seine Mitarbeiter zudem beobachtet haben, schaffen es im Duett spielende Pianisten umso besser, sich mit ihrem Partner zu synchronisieren, je ähnlicher sich ihre Bewegungen beim Spielen sind. Die kleinen Unterschiede des Vor- und Zurückwiegens des Oberkörpers, das wahrscheinlich dabei hilft, den Takt zu halten, erfassten die Forscher mit am Rücken der Musiker angebrachten Motion Capturing Markern, die normalerweise für lebensechte 3-D-Animationen benutzt werden.

Derzeit überprüfen die Forscher, ob dieser Zusammenhang auch bei anderen Instrumenten und in größeren Gruppen besteht. Deshalb tönen zurzeit häufig helle metallische Rhythmen aus dem Laborraum. Auf dem Boden sitzen dann Leipziger Musik­studenten im Halbkreis und spielen Gamelan – eine Musik, die vor allem auf Java, Bali und in Indonesien verbreitet ist und bei der auf kleinen Gongs und topfartigen Trommeln aus Bronze gespielt wird.

Wie bei den Pianisten nutzen die Forscher auch hier das Motion-Capturing-Verfahren, um später im Com­puter feinste Bewegungsnuancen auswerten zu können. „Dabei sieht man auch Details, die einem sonst entgehen würden – etwa, wer sich an wem ausrichtet, wer beim Spielen eher die anderen führt und wer sich unterordnet“, sagt Keller. Es sei interessant, dass sich oft solche Verhältnisse einstellen. Was genau auf kognitiver Ebene dahinter stecke, könne er bis jetzt nur vermuten.

Das ist eine von vielen Fragen über die soziale Seite unseres Gehirns, die bald in Angriff genommen werden sollen. Unter anderem untersuchen die Forscher am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, unter welchen Bedingungen Kore­präsentation stattfindet und ob diese stärker ausfällt, wenn man die andere Person kennt. Dabei wollen die Wissenschaftler auch aufklären, ab welchem Zeitpunkt in der frühkindlichen Entwicklung die Vorstellungen vom Handeln anderer Personen auftreten.

Industrieroboter mit Menschenkenntnis

Diese Arbeiten zählen zwar zur Grundlagenforschung. Doch wenn die Mechanismen des Gemeinsamen immer besser verstanden werden, wäre das auch für viele praktische Felder interessant. Etwa für die kognitive Robotik – hier arbeiten Forscher seit einiger Zeit daran, künstliche soziale Intelligenz zu programmieren, um irgendwann einmal Industrierobotern Soft Skills und Menschenkenntnis zu verleihen. Auch die Musik- und die Bewegungspädagogik würden profitieren. Und schließlich könnten die neuen Erkenntnisse ein besseres Verständnis ermöglichen für Störungen des Einfühlungsvermögens, die etwa bei Autismus oder bestimmten Hirnverletzungen auftreten, und damit in Zukunft zu besseren Therapien führen.

 

 
GLOSSAR

Common Coding

Die Theorie des Common Coding besagt, dass Wahrnehmen und Handeln teilweise auf denselben kognitiven Vorgängen beruhen. Daraus ergibt sich die Annahme, dass beide aneinander gekoppelt sind und direkt miteinander interagieren können.

Spiegelneuronen
Nervenzellen, die sowohl beim Ausführen einer Handlung aktiv werden als auch dann, wenn eine Handlung nur beobachtet wird. Sie wurden erstmals von den italienischen Neurologen Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese beschrieben.

Prämotorischer Kortex
Ein Areal der Großhirnrinde, das für Planung von Handlungen zuständig ist.

Elektroenzephalografie (EEG)
Bei einem EEG werden Veränderungen der Hirnaktivität über Elektroden gemessen, die an der Kopfhaut angebracht sind.

Korepräsentation
Die Tatsache, dass Handlungen einer anderen Person beim Zuschauer dieselben Neuronen aktivieren.

Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Ein bildgebendes Verfahren, das sichtbar macht, welche Gebiete des Gehirns bei bestimmten Aufgaben und Reizbedingungen aktiv werden.

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