„Zuwanderung muss anders gesteuert werden“
Ein Interview mit Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München
Steigende Zahlen Geflüchteter, überlastete Kommunen, anhaltende Schleuserkriminalität: Die Politik sucht schnelle und effektive Mittel gegen irreguläre Migration. Gleichzeitig sollen die Rechte schutzbedürftiger Menschen gewahrt bleiben. Welche Maßnahmen könnten einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten, und warum lohnt ein Blick in die Schweiz? Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, im Gespräch
Seit dem 4. Oktober finden an Grenzen zu Österreich, Polen und der Slowakei stationäre Grenzkontrollen statt. Österreich kontrolliert auch die Grenze zur Tschechien. Sind Grenzkontrollen das richtige Mittel, um irreguläre Migration zu stoppen?
Ulrich Becker: Man muss unterscheiden zwischen stationären Grenzkontrollen und Grenzkontrollen im weiteren Sinne. Zu Grenzkontrollen im weiteren Sinne gehören Kontrollen, die in einer Grenzregion im Inland stattfinden und als Schleierfahndung bezeichnet werden. Diese Kontrollen kennen wir verstärkt seit der großen Fluchtbewegung 2015/2016. Sie sind ein wirksames Mittel, um Schleuser aufzugreifen. Arbeiten Nachbarstaaten hier effektiv und verdeckt zusammen, hat das einen großen Effekt. Was temporäre stationäre Grenzkontrollen mit Nachbarländern am Ende der Balkanroute bringen, wird sich zeigen. Sie dienen eher der Abschreckung aufgrund ihres Symbolcharakters.
Wie das?
Der Schengener Grenzkodex gestattet Grenzkontrollen nur unter außerordentlichen Umständen, wenn eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat ein sofortiges Handeln erfordert. Diese Kontrollen sind auf zehn Tage befristet, dann um maximal 20 Tage verlängerbar. Die Praxis ist in der sogenannten Flüchtlingskrise allerdings zweifelhaft. Im Falle Österreichs hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Grenzkontrollen nicht ständig über sechs Monate hinaus verlängert werden dürfen. Ob zunehmende Schleuserkriminalität die Errichtung von stationären Kontrollen rechtfertigen kann, hängt von den Umständen und nicht zuletzt einer tragfähigen Begründung ab.
Landtagswahlen alleine rechtfertigen es nicht?
Nein (lacht). Entscheidend ist aber, was mache ich mit den Personen, die ich im Rahmen einer Kontrolle aufgreife? Man kann irregulär Gewanderte nicht einfach zurückschieben in das nächste EU-Grenzland. Zumal auch die aufgegriffenen Menschen letztlich ein Aufenthaltsrecht haben könnten. Das lässt der Grenzkodex nicht zu. Zurückweisungen funktionieren nur an den Außengrenzen, wie der Europäische Gerichtshof bereits deutlich klargestellt hat.
Liegt darin die Bedeutung der Debatte um die EU-Asylreform, in die zuletzt Bewegung kam und noch rechtzeitig vor den Europawahlen im Juni 2024 verabschiedet werden soll?
Ja, es braucht eine Europäisierung der Asyl- und Zuwanderungsregeln. Es gilt, in der EU irreguläre Migration gemeinsam zu begrenzen und gemeinsam Schutz zu gewähren. Und das geht nicht ohne verbindliche Regeln zur Registrierung, zur Grenzkontrolle, zum Verfahren und zur Verteilung von Zuwandernden. Wenn man einen Raum ohne Binnengrenzen schaffen will – und das wollen wir ja grundsätzlich: Wir dürfen nicht vergessen, dass das eine große Errungenschaft der europäischen Integration ist – dann müssen wir diese Binnengrenzen möglichst offenhalten. Das allerdings bedeutet im Umkehrschluss wiederum: An den Außengrenzen muss dann auch dementsprechend kontrolliert werden. Das machen wir bei der Wareneinfuhr schon seit langem so, da gibt es einen gemeinsamen Zolltarif und da wird der an den Außengrenzen kontrolliert und eingehalten. Bei dem Personenverkehr ist es sehr viel schwieriger, weil die Mitgliedstaaten von Anfang an ihre Souveränitätsrechte behalten wollten.
Kein unbekanntes Phänomen…
Nein, das ist seit den 1980er-Jahren und den Bemühungen, einen Binnenmarkt zu schaffen, bekannt und deswegen auch so schwierig umzusetzen. Das zwischenzeitlich im Flüchtlingsrecht geschaffene Dublin-System hat sich als dysfunktional erwiesen. Denn die Staaten an den Außengrenzen wären insgesamt zuständig gewesen, waren jedoch überlastet. Das Aufnahmeverfahren verlief auch als Folge dessen nicht mehr so, dass menschenwürdige Umstände geherrscht haben. Ergo sind dann die Flüchtlinge weitergewandert, und das in ungesteuerter Form.
Wie will die Reform das ändern?
Angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen steigt der Druck auf EU-Parlament und Rat, zu einem Abschluss zu kommen. Bis Februar 2024 muss der Kompromiss stehen, damit die Regeln noch vor der Parlamentswahl im Juni 2024 verabschiedet werden können. Es gab bereits 2015 schon Reformvorschläge, aber erst jetzt scheint der Druck groß genug, um sie zu realisieren.
Was muss innerhalb der EU getan werden?
Zuwanderung muss anders gesteuert werden. Als erstes muss man wissen: Wer kommt? Dazu dienen Grenzkontrollen an den Außengrenzen. Wir haben in der Wissenschaft schon lange vorgeschlagen, dass es sehr viel mehr europäische Regeln und europäische Zuständigkeiten für die Außenkontrollen geben muss. Diese rechtliche Verantwortung der Europäischen Union wird mit der Reform gestärkt und im Übrigen schon seit einigen Jahren dank eines Fonds von über sechs Milliarden Euro zumindest teilweise finanziell unterstützt. Zweitens sollten auch die Anerkennungsverfahren grenznäher stattfinden. In den Reformvorschlägen vorgesehen ist zudem eine Ausdehnung der Drittstaatenklauseln, also in gewisser Weise auch eine Verlagerung der Aufnahmeverantwortlichkeit auf dritte Staaten.
Diese Grenzverfahren gelten als umstritten. So sollen Mitgliedstaaten bei einem besonders starkem Zustrom Menschen bis zu 20 statt 12 Wochen festhalten können unter Herabsetzung von Schutzstandards.
Ja, das ist sehr umstritten. Die Kritik ist in Teilen, aber nicht im Grundsatz berechtigt. Ich sehe die Grenzverfahren positiv. Und zwar deshalb, weil sie sehr viel schnellere Verfahren und damit schnellere Entscheidungen ermöglichen. Damit können wir diejenigen, die nicht aufgenommen werden sollen, auch schneller wieder zurückführen, und andererseits diejenigen, die ein Bleiberecht bekommen, auch schneller integrieren. Krisenbedingte Sonderbedingungen sollte es allerdings nicht geben.
Der größte Anteil der flüchtenden Menschen hat Anspruch auf Schutz. Besteht nicht eine Gefahr von falschen, rechtswidrigen Entscheidungen?
Natürlich. Deswegen muss das Verfahren so ausgestaltet sein, dass wirklich individuell geprüft wird. Es muss rechtlichen Beistand und Rechtsschutzmöglichkeiten im Einzelfall geben, auch sind schnelle gerichtliche Entscheidungen herbeizuführen. Gleichzeitig muss das Verfahren möglichst an einem Ort stattfinden, selbst wenn das eine räumliche Einschränkung für die Menschen bedeutet. Hier wird umso wichtiger, dass in diesen Aufnahmeorten menschenwürdige Bedingungen herrschen; dazu gehören geschützte Räume für Familien und für schutzbedürftige Personen. Das stellt uns vor große praktische und rechtsstaatliche Herausforderungen.
Beschleunigen Verfahren an den Außengrenzen die Asylverfahren hierzulande?
Asylverfahren dauern laut den neuesten Zahlen des BAMF [Anmerkung d. Redaktion: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] im Schnitt sechs bis sieben Monate von der Zuständigkeitsfeststellung bis zum Ende des Verwaltungsverfahrens. Findet eine Registrierung bereits an den Außengrenzen statt, entlastet das die Behörden hierzulande insoweit, als Migration besser gesteuert und vorgefiltert werden könnte. Können Menschen, die offensichtlich keine Chance auf Asyl haben, bereits an der Außengrenze abgewiesen werden, vermeide ich langwierige Verfahren und eröffne umgekehrt für die Fälle, in denen zur Prüfung ein Bleiberecht erforderlich ist, den Gang zu den Behörden innerhalb der EU und gewähre damit Schutz, bis der Fall abschließend geklärt ist.
Gibt es bereits Erfahrungswerte?
Es lohnt der Blick in das Nachbarland Schweiz. Dort wurde ein zweistufiges Verfahren eingeführt. Für die erste Stufe, eine Vorabprüfung, gibt es nur 100 Tage Zeit: von der Registrierung bis zur Rückführung! Das ist schon recht kurz, löst aber die Fälle, in denen offensichtlich kein Bleiberecht erforderlich ist, sei es, dass kein Fluchtgrund besteht oder Drittländer als sicher gelten.
Also weniger als die geplanten 12 Wochen für die EU...
Korrekt! Wenn man konsequent sein will, dann sollte es an der EU eben auch ein solches Verfahren für alle geben – unabhängig davon, ob gerade viel oder wenig Flüchtende kommen.
Ist es problematisch, die Kompetenzen von Frontex, die Europäische Grenz- und Küstenwache, an den Außengrenzen zu erweitern?
Die Ausweitung der Kompetenzen von Frontex ist schon oft – auch in Teilen der Wissenschaft - kritisch gesehen worden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Frontex eine gewisse Zwitterstellung hat, als Folge der gemischten Zuständigkeiten in der EU. Im Rahmen der Küstenkontrolle handeln die Beamten als Einrichtung der EU, im Rahmen der Rückführung handeln sie als Amtshelfer für die Mitgliedsstaaten. Frontex ist ungeachtet dessen natürlich an die Grundrechte gebunden. Dass sie im Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot retten müssen, ist völker- und unionsrechtlich völlig klar.
Wie wichtig ist es, im Ausland das Bemühen um Begrenzung einer irregulären Migration zu kommunizieren?
Sehr wichtig. Das sehen Sie gerade im Fall der Seenotrettung. Da ist ja immer das Argument, man gäbe denjenigen positive Anreize, die auf wacklige Schiffe steigen, weil sie ohnehin gerettet würden. Eine jüngere Studie widerspricht dem jedoch. Und das ist plausibel. Denn die meisten Flüchtlinge haben keine Ahnung, wie ihr gefährlicher Weg in die EU verläuft. Diesem Informationsdefizit gilt es, schon am Beginn der Fluchtrouten zu begegnen.
Daneben gibt es auch eine Debatte um sichere Dritt- und Herkunftsstaaten. Was ist der Unterschied?
Wir sprechen von sicheren Drittstaaten, wenn sich jemand in einem Staat aufgehalten hat, in dem er Schutz bekommen hat oder zumindest hätte Schutz bekommen können. Dorthin ist eine Rückführung möglich. Das ist ein effektives Konzept, dessen Durchführung durch Abkommen erleichtert werden kann. Das nicht unumstrittene Türkei-EU-Abkommen ist ein Beispiel dafür. Den Verweis auf Drittstatten kennt auch das internationale Flüchtlingsrecht. Hintergrund ist: Verfolgte sollen möglichst nah an dem Vertreibungsort Schutz erhalten können. Deshalb auch das Abkommen mit der Türkei als Grenzstaat Syriens. Das Konzept spielte aber eine besondere Rolle bei der Reform des deutschen Asylrechts. Als 1992 Artikel 16a Grundgesetz geändert worden ist, wurde in der Sache gesagt: Es gibt ein Recht auf Asyl – aber mit Einschränkungen, und wer es beantragen will, muss erst mal zu uns kommen können. Wir haben so einen Gürtel der Verfolgungssicherheit um Deutschland gelegt. Etwas anderes ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten, die nicht mit sicheren Drittstaaten verwechselt werden dürfen. Sichere Herkunftsstaaten bedeuten nur, dass es eine Vermutung dafür gibt, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Jeder Schutzsuchende kann diese Vermutung im Verfahren widerlegen und so ein Aufenthaltsrecht erwirken. Reist er hingegen durch einen sicheren Drittstaat, kann er dahin zurückgebracht werden, wenn keine Ausnahmegründe bestehen. Deshalb ist die Debatte um die Einhaltung von Menschenrechtsstandards gerade bei den Drittstaaten zu führen: Wie ist die Menschenrechtssituation in diesen Staaten? Sind Flüchtlinge sicher und menschenwürdig versorgt? Das gilt auch im Falle von Abkommen, weshalb der EU-Türkei-Deal so umstritten war.
Ist es sinnvoll, die Liste sicherer Herkunftsstaaten – wie jüngst diskutiert - zu erweitern?
Das bringt unter dem Strich nur wenig. Zwar sollen damit die Verfahren aus den betreffenden Staaten verkürzt werden, die Anhörungs- und Rechtsmittelfristen sind kürzer. Aber auch bei einer Herkunft aus diesen Staaten sind die Betroffenen persönlich anzuhören. Im normalen Asylverfahren läuft es so, dass sowohl die Entscheider bei den Behörden als auch die Gerichte allgemeine Informationen über die Länder haben. Die Informationen kommen zum Teil vom Auswärtigen Amt und vom UNHCR, verstärkt mittlerweile auch von der Europäischen Asylagentur. Das heißt, es gibt ein Wissen über die Verfolgungssituation in anderen Ländern. Kommen Schutzsuchende aus Ländern, in denen die Verfolgungswahrscheinlichkeit sehr gering ist, müssen sie im Einzelfall relativ viel vorbringen, warum sie abweichend von der allgemeinen Einschätzung von Verfolgung bedroht sind. Insofern sind bei den Nachweisanforderungen die Übergänge zu den sicheren Herkunftsstaaten fließend.
Welche Möglichkeiten gibt es, Fluchtursachen zu beseitigen?
Natürlich ist es wichtig, die Gründe für Verfolgung und Flucht in den Herkunftsländern zu beseitigen oder zumindest zu mindern. Aber es gibt oft nur beschränkte Einflussmöglichkeiten, wie wir nicht nur am Beispiel der Ukraine sehen. Wichtig ist es deshalb nicht zuletzt, die Nachbarstaaten der Herkunftsländer einzubeziehen. Sie können erste Hilfe leisten und Flüchtlinge aufnehmen. Die Bedeutung ihrer Unterstützung wurde auch 2015 erkennbar: Dass viele Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa wollten, stand auch in einem Zusammenhang mit dem Umstand, dass in den Nachbarländern Syriens die Unterbringung von Flüchtlingen auf finanzielle Schwierigkeiten stieß.
Das Interview führte Michaela Hutterer