Navi im Kopf
In einer fremden Stadt fühlt man sich im Gewirr unbekannter Gebäude und Straßen schnell verloren. Aber schon nach kurzer Zeit findet man den Weg auch ohne Stadtplan oder Navi. Christian Doeller vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig erforscht mit seinem Team, wie wir das schaffen. Die Forschenden wollen darüber hinaus verstehen, wie das Navigationssystem für andere Gehirnfunktionen, etwa das Gedächtnis oder auch das Abstraktionsvermögen, genutzt wird.
Text: Catarina Pietschmann
Vor allem in Städten sind sie ein vertrauter Anblick: Menschen, die ihr Smartphone wie einen Kompass vor sich hertragen und sich immer wieder im Kreis drehen, wenn sie die Orientierung verloren haben. Wie geht’s vom Bahnhof zum Hotel? „Von mir aus links, dann die dritte Straße rechts – da müsste es sein.“
„Egozentrisch nennen wir diese Art der Navigation. Genauso orientieren sich auch Kinder“, sagt Christian Doeller, Leiter der Abteilung „Psychologie“ am Max-Planck-Institut. Mit dem Älterwerden ändert sich die Art der Navigation. Die egozentrische Orientierung funktioniert zwar weiter, doch mehr und mehr bezieht unser Navigationssystem die Lage von Orten nicht mehr auf die eigene Person, sondern auf deren relative Position zueinander. Dieses allozentrische Navigationssystem funktioniert wie ein persönlicher Stadtplan im Kopf. Aus Tierversuchen weiß man, dass es im Gehirn von Nagetieren verschiedene Typen von Nervenzellen gibt, die am Orientierungsvermögen beteiligt sind: zum Beispiel Ortszellen im Hippocampus und Gitterzellen im benachbarten entorhinalen Kortex. Beide Hirnareale stehen in enger Verbindung und sind an der Speicherung von Erinnerungen beteiligt.
„Die von den Orts- und Gitterzellen erzeugten mentalen Karten stellen ein Grundprinzip des menschlichen Denkens dar.“
Christian Doeller
„Jede Ortszelle ist für einen bestimmten Ort im Raum zuständig. Erkundet beispielsweise eine Ratte einen Raum, so ist an jedem Ort eine andere Zelle aktiv. Im nächsten Raum werden wieder andere Nervenzellen aktiv“, erklärt Doeller. Wenn das Tier ein paar Tage später wieder in denselben Raum kommt, feuern an den gleichen Orten wieder dieselben Nervenzellen. Während bei den Ortszellen ein Neuron für eine bestimmte Position im Raum verantwortlich ist, sind Gitterzellen an unterschiedlichen Orten aktiv. Verbindet man diese Orte miteinander, entsteht ein Raster aus Dreiecken. Je nach anatomischer Lage einer Gitterzelle im entorhinalen Kortex besitzen diese Dreiecke unterschiedlich lange Seiten: In einem Teilbereich des entorhinalen Kortex feuert eine Zelle beispielsweise, wenn das Tier rund 30 Zentimeter läuft, in einem anderen Teil muss das Tier dafür einige Meter zurücklegen. Auf diese Weise kann das Gehirn prinzipiell Entfernungen messen. Die Rasterzellen erzeugen also ein Koordinatensystem der Umgebung, und die Ortszellen registrieren die Position des Tiers. So entsteht eine Karte der Umwelt im Kopf, so ähnlich wie eine Landkarte. Daneben gibt es noch weitere Zelltypen, die für die Navigation wichtig sind, beispielsweise die Kompasszellen. „Denen ist die Position im Raum völlig egal. Sie werden erst aktiv, wenn das Tier in eine bestimmte Richtung läuft. Zusammen ermöglichen diese drei Zelltypen den Tieren die räumliche Orientierung“, erklärt der Forscher.
MRT und virtuelle Realität
Bei Mäusen und Ratten lässt sich das „Navigationssystem“ im Gehirn direkt beobachten, weil die elektrischen Impulse der Nervenzellen mittels feinster Elektroden gemessen werden können. Solche Versuche geben Christian Doeller auch wichtige Anhaltspunkte für seine Forschung am Navigationssystem des Menschen. Aber statt auf Elektroden setzen er und sein Team in diesem Fall auf Magnetresonanztomografie und virtuelle Realität: Ausgestattet mit VR-Brillen „bewegen“ sich Testpersonen durch virtuelle Räume, gleichzeitig zeichnet das MRT ihre Gehirnaktivität auf. „Die Probandinnen und Probanden müssen in der virtuellen Welt Orientierungsaufgaben lösen, und wir sehen dem Gehirn dann bei seiner Arbeit zu“, sagt Doeller. So genau wie die Messung mit Elektroden sind zwar selbst die modernsten MRT-Geräte bislang noch nicht. „Der Vorteil gegenüber Experimenten mit Tieren ist andererseits, dass wir weitaus komplexere kognitive Funktionen untersuchen und die Testpersonen befragen können, während sie ihre Aufgaben bewältigen.“
Doellers Ergebnisse zeigen, dass nicht nur Nagetiere, sondern auch Menschen über ein fest differenziertes Navigationssystem im Gehirn verfügen. Wahrscheinlich trifft dies auch auf die meisten anderen Säugetiere zu, denn der Hippocampus ist ein entwicklungsgeschichtlich alter Teil des Gehirns. Die Forschenden haben darüber hinaus entdeckt, dass Gitterzellen beim Menschen so wie bei Affen auch nicht nur zur Orientierung, sondern ebenso zur Wahrnehmung dienen. „Gitterzellen sind wie Schrittzähler oder Strukturgeber: Wir erfassen mit ihrer Hilfe die Größe eines Raumes oder die Komposition von Bildern. Vermutlich sind sie auch dazu da, Wissen zu abstrahieren“, erklärt Doeller. „Wer zum Beispiel normalerweise in einem Supermarkt in Berlin einkaufen geht, wird sich auch in Leipzig zurechtfinden können. Zuerst kommen Obst und Gemüse, und an der Kasse gibt’s Süßigkeiten und Kaugummi.“ Einmal im Gehirn gespeichert, kann dieses Wissen immer wieder abgerufen und mithilfe des Ortszellensystems im Hippocampus flexibel auf neue Zusammenhänge angewendet werden. Heute weiß man, dass das Navigationssystem die Vorlage für andere Schaltkreise des Gehirns ist. Wie das Navigationssystem die Blaupause für andere Gehirnfunktionen abgeben könnte, das lässt sich am Beispiel des Gedächtnisses demonstrieren. So ist unser Ortssinn Teil des episodischen Gedächtnisses. Für dieses „Kartengedächtnis“ verknüpfen Hippocampus und entorhinaler Kortex Orte im Raum. Dasselbe können sie auch mit Ereignissen tun, indem sie neben räumlichen Eindrücken auch Seh-, Hör- und Geruchsempfindungen zu einer vielschichtigen Erinnerung verbinden. Um diese abzurufen, genügt ein bestimmter Geruch, ein Lichteinfall oder ein Geräusch: Der Geruch von Mandelkeksen zum Beispiel kann die Erinnerung an ein Café in Siena hervorrufen, an eine Straße, die hinunter zur Piazza del Campo führt. Die Luft ist erfüllt vom Duft dieser Kekse, der Ricciarelli. Dieses Aroma mischt sich mit jenem von Espresso. Die Nachmittagssonne taucht alles in ein warmes Licht, Passanten eilen vorüber, Vespas knattern ...
Die Erinnerung könnte zu einer Italienreise gehören. Der Ortssinn wäre dann ein Teil davon: Wo genau das Café liegt und wie man von dort beispielsweise zum Dom mit seiner prächtigen Kuppel kommt, auch das wäre gespeichert. „Nachdem der Hippocampus die einzelnen Elemente einer Episode verknüpft hat, werden sie in verschiedenen Regionen im Gehirn verteilt gespeichert. Zum Abruf reicht dann oftmals ein Schlüsselreiz. Der Hippocampus nutzt diesen Reiz, um die Gesamtepisode wieder zusammenzusetzen“, erklärt Doeller.
„Trotz Navi werden wir wohl nie ganz auf unseren Ortssinn verzichten können.“
Christian Doeller
Erzählt man Erlebnisse oder schreibt man sie auf, werden sie verstärkt und erneut gespeichert. Auf diese Weise verfestigt sich Erinnerung. Unter speziellen Umständen kann sie aber auch wieder verändert werden. Sehr emotionale Ereignisse „brennen“ sich regelrecht ein. „Seltsamerweise weiß ich noch genau, dass ich beim Friseur saß, als ich im Radio die Nachricht vom Tod von Franz Josef Strauß hörte. Warum ich mich ausgerechnet daran erinnere, ist mir schon ein Rätsel. Die Nachricht muss mich damals bewegt haben“, erinnert sich Christian Doeller. 1988 war das, da war er gerade mal 14 Jahre alt. Unser Gedächtnis ist jedoch alles andere als für alle Zeiten unveränderbar. Wenn beispielsweise zum ersten Italienurlaub im Laufe des Lebens weitere hinzukommen, dann verschmilzt das Gehirn diese Einzelerfahrungen zu einer Art Italien-Grunderinnerung aus Olivenhainen, Zypressen, Hitze, Pasta und Zitroneneis. All das ist semantisches Wissen, also Wissen auf Basis von Fakten, die man während mehrerer Italienaufenthalte gespeichert hat. An diese Fakten erinnert man sich auch dann noch, wenn der einzelne Urlaub vergessen ist. Anhand der „archivierten“ Details würde sich dieser aber rekonstruieren lassen.
Christian Doeller ist davon überzeugt, dass unser Navigationssystem nicht nur dem episodischen und räumlichen Gedächtnis dient, sondern auch Erinnerungen sortiert, zum Beispiel nach zeitlicher Abfolge oder räumlicher Nähe. „Es ist im Grunde optimal dafür geeignet, denn es kann Informationen in einem festen Koordinatensystem einordnen. Außerdem kann das Navigationssystem dank seiner Ortszellen einzelne Orte abbilden. Es kann zudem aus Einzelerlebnissen verallgemeinern und so Faktenwissen erzeugen. Diese Fähigkeiten spielen mit großer Sicherheit auch in anderen Bereichen eine Rolle.“ Die Erinnerung an einen Ort kann auf diese Weise mit anderen Erinnerungen verknüpft werden. Mehr noch: Erinnert man sich an ein Erlebnis, tauchen manchmal weitere auf, die damit räumlich oder zeitlich verknüpft sind. So können wir gewissermaßen in der Vergangenheit von Ort zu Ort oder in der Zeit reisen.
Ordnung in kognitiven Räumen
Darüber hinaus nutzt neuen Studien zufolge unser Gehirn dasselbe Netzwerk aus Orts- und Gitterzellen auch, um Objekte oder Sinneseindrücke in sogenannten kognitiven Räumen zu ordnen. Jede Eigenschaft stellt dabei eine Dimension in der mentalen Karte dar. Inhalte mit ähnlichen Merkmalen liegen darin nah beieinander, solche mit verschiedenen Eigenschaften weiter voneinander entfernt. Doellers Team hat herausgefunden, dass der Hippocampus die Distanzen in solchen abstrakten Räumen repräsentiert. Tiere können zum Beispiel nach Größe und Geschwindigkeit sortiert werden. In diesem kognitiven Raum liegt eine kleine und langsame Schnecke weit von einem großen und schnellen Pferd entfernt. Jedes Tier, beispielsweise definiert durch die typische Kombination aus Größe und Geschwindigkeit, besetzt einen „Ort“ im kognitiven Raum und kann so durch das Orts- und Gitterzellensystem repräsentiert werden. Dieses System ist gleichzeitig hoch dynamisch und kann ganz unterschiedliche mentale Räume aufspannen.
„Die von den Orts- und Gitterzellen erzeugten mentalen Karten stellen ein Grundprinzip des menschlichen Denkens dar. Unser Gehirn organisiert auf die Weise nicht nur Orte und Erinnerungen, sondern auch generelles Wissen. Auf diese Weise können wir Gelerntes verallgemeinern und auf neue Situationen übertragen“, sagt Doeller.
Doch zurück zum Orientierungsvermögen. Wie viele andere Gehirnfunktionen verändert es sich im Laufe des Lebens: Bei Säuglingen und Kleinkindern funktioniert es noch eher egozentrisch, also auf den eigenen Körper bezogen, dann übernimmt allmählich das allozentrische, auf äußeren Referenzpunkten beruhende System. Doch mit zunehmendem Alter lässt dieses dann wieder nach. Das egozentrische System bleibt dagegen deutlich länger stabil. Auch bei einer Demenz gehören räumliche Gedächtnisdefizite zu den ersten Ausfallerscheinungen. Grund dafür sind in beiden Fällen Schädigungen im entorhinalen Kortex, der für das episodische Gedächtnis und die Orientierung verantwortlich ist. Vor einigen Jahren hat Doellers Team diesen Zusammenhang in einer Studie untersucht. Die Forschenden haben die Gehirnaktivität von Menschen mit einer Genvariante, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit später zu Alzheimer-Demenz führt, mit jener von gleichaltrigen, genetisch nicht vorbelasteten Menschen verglichen. „Bei den Personen mit dem Alzheimer-Risikogen war das Navigationssystem im entorhinalen Kortex bereits weniger aktiv, und dies, lange bevor sich das Orientierungsvermögen der Betroffenen verschlechterte“, erklärt Doeller. Interessanterweise war bei den Betroffenen dafür aber die Aktivität des Hippocampus höher. „Ihr Gehirn versuchte demnach vermutlich bereits, den fortschreitenden Funktionsverlust der Gitterzellen im entorhinalen Kortex auszugleichen.“ Wie das geschieht, ist bislang nicht bekannt.
Alzheimer: Der Ortssinn schwindet
Eine Alzheimer-Erkrankung beginnt in der Regel im entorhinalen Kortex. Hier lagern sich die ersten Verklumpungen aus Amyloid-Protein ab, die sogenannten Plaques. „Aus Untersuchungen an Tieren mit Alzheimer-ähnlichen Erkrankungen wissen wir, dass die Orts- und Gitterzellen weniger präzise aktiv sind. Ihre Aktivitätsmuster sehen regelrecht verwaschen aus, und die räumliche Präzision lässt nach.“ Der Ortssinn und das Gefühl für Entfernungen verschwinden, über Jahrzehnte vertraute Orte wirken plötzlich fremd. Doeller vergleicht es gern mit Kurzsichtigkeit: Wenn die zelluläre Auflösung nicht mehr so gut ist, ist es auch wahrscheinlicher, dass man sich verläuft.
Navis in Smartphones oder Autos nehmen einem heute die Navigationsleistung des Gehirns größtenteils ab. Besteht die Gefahr, dass sich unser Orientierungsvermögen dadurch verschlechtert? „Auf lange Sicht ist das möglich. Aber so ganz werden wir vermutlich nie auf den Ortssinn verzichten können. Wir brauchen ihn ja auch, um uns zu Hause, am Arbeitsplatz oder in fremden Gebäuden zurechtzufinden. Aber selbst wenn er völlig überflüssig werden würde, würde der Schaltkreis des Orientierungssystems für Aufgaben wie das Gedächtnis oder das Abstraktionsvermögen weiter genutzt werden. Vielleicht kämen sogar noch andere hinzu.“ Sollte es also eines Tages möglich sein, sich ausschließlich mit externen Navis durchs Leben zu steuern, könnten die frei gewordenen Hirnkapazitäten anderweitig genutzt werden. Statt angestrengt nach dem Weg zu suchen, könnte man sich dann vielleicht wieder in Ruhe mit anderen Menschen unterhalten.
Auf den Punkt gebracht
Im Gehirn des Menschen sind verschiedene Typen von Nervenzellen am Orientierungssinn beteiligt: Ortszellen im Hippocampus registrieren bestimmte Orte innerhalb eines Raumes, Gitterzellen im entorhinalen Kortex sorgen für das Abschätzen von Entfernungen, und Kompasszellen messen die Richtung.
Die Schaltkreise des Orientierungssystems werden von weiteren Gehirnfunktionen verwendet: Unser Gedächtnis und unsere Fähigkeit zur Abstraktion nutzen dieselben Verarbeitungsprozesse.
Im Alter lässt das Kartengedächtnis nach. Auch bei einer Demenz wird das Orientierungsvermögen schon sehr früh schlechter. Grund dafür ist wahrscheinlich der Ausfall von Orts- und Gitterzellen.