Gendosis neu gedacht
Max-Planck-Forschung enthüllt Kontrollmechanismus biallelischer Gene
Jede Zelle besitzt zwei Kopien eines Gens, die Allele genannt werden. Jedes Elternteil gibt ein Allel an seine Nachkommen weiter. Fällt eine Kopie aus, kann die andere den Verlust ausgleichen. Haploinsuffiziente Gene sind jedoch auf die stetige Aktivität zweier intakter Allele angewiesen. Forschende des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg haben nun mit dem epigenetischen Regulator MSL2 einen Mechanismus entdeckt, der die sogenannte biallelische Expression dieser Genklasse schützt und damit ein bislang unbekanntes Kommunikationssystem zwischen den elterlichen Allelen aufdeckt.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir jedes Chromosom in zweifacher Ausfertigung in all unseren Zellen tragen? Wir erhalten jeweils eines von Vater und Mutter während der Fortpflanzung. Damit erhalten wir auch gleichzeitig zwei Kopien bzw. Allele eines jeden Gens – je ein Allel pro Chromosom beziehungsweise Elternteil.
Beide Allele können Boten-RNA produzieren, die das Rezept für die Herstellung von Proteinen ist und die Funktion der Zellen sicherstellen. Die Wissenschaft vermutet, dass das Vorhandensein von zwei Allelen für jedes Gen ein in die Zelle integriertes Reservesystem ist. Sollte es einmal zu einer Mutation kommen oder die Produktion der Boten-RNA durch das Allel auf einem der Chromosomen beeinträchtigt sein, dient das Allel auf dem zweiten Chromosom als Backup und kann ausreichend Boten-RNA produzieren, um den Verlust des ersten Allels auszugleichen. Diese Redundanz macht den Menschen weitgehend resistent gegen die Auswirkungen rezessiver Mutationen.
Eine Klasse von Genen, die sogenannten haploinsuffizienten Gene, sind jedoch auf die kontinuierliche Expression von zwei intakten Allelen angewiesen. Wenn nur ein Allel eines haploinsuffizienten Gens beeinträchtigt ist, kann eine Krankheit entstehen. Daher wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Zelle möglicherweise über einen speziellen „Sicherheitsmechanismus“ verfügt, um die Expression der Boten-RNA dieser besonderen Klasse von Genen zu schützen. Eine Studie unter der Leitung von Asifa Akhtar hat nun einen solchen Mechanismus entdeckt.
Epigenetischer Regulator MSL2 als Dosissensor
Die Forschenden am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik fanden heraus, dass der epigenetische Regulator MSL2 die Expression beider Allele bestimmter haploinsuffizienter Gene garantiert. Dadurch wird die korrekte Dosierung der Boten-RNA sichergestellt. Dies ist entscheidend, da Gene je nach Gewebe, in dem sie exprimiert werden, eine unterschiedliche Dosis benötigen. Mit MSL2 hat das Team erstmals ein Protein identifiziert, das diese Dosis-abhängigen Gene erkennt und ihre biallelische Expression im richtigen Gewebe oder Entwicklungsstadium gewährleistet.
„Wir haben uns immer gefragt, ob die Genkopie auf dem mütterlichen Chromosom mit der zweiten Kopie auf dem väterlichen Chromosom kommunizieren kann. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es eine grundlegende Kommunikation zwischen den beiden Allelen gibt. Und wir vermuten, dass MSL2 dafür sorgt, dass Mama und Papa sozusagen miteinander reden können – zumindest auf molekularer Ebene“, erläutert Asifa Akhtar, Direktorin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.
Mit genetischem Trick dem Allel-Regler auf die Spur kommen
Fasziniert von ihrer Entdeckung eines Allel-Reglers, der die biallelische Expression von haploinsuffizienten Genen absichert, untersuchten die Forscher, wie dieser MSL2-Mechanismus auf molekularer Ebene funktioniert.
Um dies herauszufinden, wandte das Team einen Trick an. „Wir haben genetisch weit voneinander entfernte Mausstämme miteinander verpaart – in etwa so, als würde man einen Chiwawa mit einer Dogge kreuzen. So konnten wir verfolgen, welche Allele von der Mutter und welche vom Vater vererbt werden“, erklärt Yidan Sun, eine der Erstautorinnen der Publikation die methodische Grundlage für die allelspezifische Genexpressionsanalyse. Mit diesem Hybridmaus-System war das Team in der Lage, die Aktivität der einzelnen Allele zu untersuchen. „Das gab uns im Gegensatz zur Standardmethode der Expressionsdatenanalyse, bei der die Genprodukte über die beiden Allele summiert werden, die nötige Auflösung, um den Expressionsstatus jedes einzelnen Allels zu verfolgen”, fügt Sun hinzu.
Neue Ansätze zur Erforschung komplexer Erkrankungen
Die Experimente zeigen, dass nach dem Verlust von MSL2 in Hybridmauszellen bestimmte haploinsuffiziente Gene nur noch monoallel exprimiert werden konnten. Das bedeutet, dass MSL2 in Säugetierzellen für die biallelische Expression von Genen notwendig ist, um deren Funktionalität und letzlich die Gesundheit des gesamten Organismus zu gewährleisten. Interessanterweise werden viele der von MSL2 regulierten, haploinsuffizienten Gene mit neurologischen Störungen in Verbindung gebracht.
„Was diese Entdeckung aber noch faszinierender macht, ist die Gewebe- und Zelltypspezifität dieser Gene. Betrachtet man den Organismus als Ganzes, stellt sich die Frage, ob ein durch epigenetische Faktoren wie MSL2 gesteuertes Backup-System erklären könnte, warum Menschen trotz ähnlicher Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder Ernährung dann doch ein unterschiedliches Krankheitsrisiko aufweisen, sagt Meike Wiese, eine der Erstautorinnen der Studie.
Evolutionär konservierter Mechanismus zur Regulierung der Gendosierung
„Mein Labor begann mit der Erforschung der Dosiskompensation in Fruchtfliegen. Das ist der Prozess, durch den männliche Tiere mit nur einem X-Chromosom die gleiche Menge an Genprodukten herstellen können wie weibliche Tiere mit zwei X-Chromosomen. Im Laufe der Jahre hat es uns stets fasziniert, wie männliche Fruchtfliegen doppelt so viel Boten-RNA produzieren wie Weibchen. Ohne diese doppelte Dosis sterben die Männchen einfach. Es scheint, als sei diese Strategie von den Säugetieren geschickt adaptiert worden. Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, wie dieselben Werkzeuge, also zum Beispiel MSL2, in der Evolution genutzt werden, um die Gendosierung zu regulieren. Und die Dosierung von Genen ist wichtig bei Krankheiten und während der Entwicklung; unsere Studie liefert neue Erkenntnisse darüber, wie die Zellen in unserem Körper dafür sorgen, dass wir die richtige Dosis an Boten-RNA erhalten“, sagt Asifa Akhtar.
Die Erkenntnisse eröffnen auch neue Wege die Regulation der Gendosierung in den Zellen tiefgreifender zu verstehen. MSL2 ist möglicherweise nur ein Beispiel für einen Allel-Regulator und es könnte weitere Moleküle geben, die ähnliche Aufgaben erfüllen. Das Team aus Freiburg ist überzeugt, dass ihre Resultate tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis von komplexen Erkrankungen habe und auch vielversprechend sind für die Entwicklung potenzieller Therapien.
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