Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Gedanken eines Täters: Wo beginnt strafrechtliche Verantwortung?
Thoughts of an offender: Where does criminal responsibility begin?
Stellen Sie sich vor, Sie fahren zu schnell und verursachen deswegen einen Unfall: Welche Ihrer inneren Einstellungen und Absichten rechtfertigen es, Ihr Verhalten als strafbar zu qualifizieren? Was muss in Ihrem Kopf vorgehen, damit wir den Unfall nicht bloß als Unglück betrachten, sondern Ihnen als Ihre Tat vorwerfen können? Auf diese alte Frage geben wir in der unabhängigen Forschungsgruppe „Strafrechtstheorie“ am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht neue Antworten. Dabei verlassen wir die ausgetretenen Pfade, in denen sich die deutsche Strafrechtswissenschaft seit Jahrhunderten bewegt: Mit einem interdisziplinären Ansatz analysieren wir normative und empirische Prämissen des geltenden Rechts hinsichtlich ihrer Kohärenz und Überzeugungskraft und vergleichen Prinzipien, Regeln und Praktiken in anderen Rechtsordnungen. Ziel ist es, eine transnationale „Grammatik“ der subjektiven Zurechnung zu entwickeln, die juristisch leistungsfähig ist und auf belastbaren normativen sowie empirischen Grundlagen beruht. Vier Projekte der Forschungsgruppe zeigen beispielhaft diesen neuen Weg auf, den wir in der Erforschung subjektiver Zurechnung einschlagen.
1. Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, oder: Braucht das deutsche Strafrecht die Kategorie der „Rücksichtslosigkeit?“
Kommt im geschilderten Unfall jemand zu Tode, so wird Ihnen vorsätzliches Handeln vorgeworfen, wenn Sie die Gefahr eines tödlichen Unfalls erkannt und in Kauf genommen haben; Fahrlässigkeit hingegen, wenn Sie auf einen glimpflichen Ausgang vertrauten. Doch erfassen diese Kategorien das Unrecht Ihres Verhaltens zutreffend? Die Unterscheidung zwischen ihnen ist in Grenzfällen wie dem geschilderten schwer zu treffen und kann zu erheblich unterschiedlichen Strafen führen (zwischen Geldstrafe und 15 Jahren Freiheitsstrafe). Dies wirft die Frage auf, ob das deutsche Strafrecht um eine Zwischenkategorie, ähnlich der recklessness im anglo-amerikanischen Strafrecht, erweitert werden sollte, um Grenzfälle zu erfassen. Hierzu verfolgen wir einen interdisziplinären Ansatz, der die normative Berechtigung sowie psychologische Angemessenheit der deutschen Vorsatz-Fahrlässigkeits-Dichotomie hinterfragt und Vorschläge für eine bessere Erfassung subjektiver Zustände unterbreitet.
2. Grenzen menschlicher Kontrolle: unbewusste Fahrlässigkeit
Wir alle haben Sorge davor, eines Tages zu vergessen, den Herd auszuschalten. Führt ein solches Vergessen zu einem Brand, liegt unbewusste Fahrlässigkeit vor. Psychologisch ist klar, dass es unmöglich ist, in jeder Situation Unwissenheit zu vermeiden. Niemand kann sich willkürlich an etwas einmal Vergessenes erinnern. Dennoch bestrafen wir Menschen für etwas, woran sie nicht einmal gedacht haben. Warum tun wir das? Dürfen wir das wirklich? Obwohl hierzu noch immer kein kohärentes Ergebnis vorliegt, ist die Diskussion darüber, was legitimerweise vorgeworfen werden darf, versiegt. Dass es einer Wiederaufnahme dieses ungeklärten Problems bedarf, zeigt auch der Blick über die nationalen Grenzen hinaus. Im anglo-amerikanischen Strafrecht ist eine Differenzierung von bewusster und unbewusster Gefährdung bereits strukturell angelegt und die Diskussion um die criminalization of negligence in vollem Gange. Durch die Aufarbeitung der für die Rechtswissenschaft bislang unerschlossenen Forschung der Kognitionspsychologie und den Einbezug der Erkenntnisse anderer Rechtsordnungen kann die deutsche Diskussion wieder neu entfacht und die Problematik neu bewertet werden.
3. Augen zu und durch? Vorsatz trotz Nichtwissens
Stellen Sie sich vor, ein Geschäftsführer oder eine Geschäftsführerin weisen ihre Compliance-Abteilung an, sie über nichts zu informieren, was strafrechtlich relevant sein könnte, damit sie nicht belangt werden können. Nach aktuellem Stand des deutschen Strafrechts können sie in diesem Fall nicht wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft werden. Es gibt insofern keine Möglichkeit, für Vorsatz zu bestrafen, wenn der Täter oder die Täterin den Tatumstand nicht kannte – egal, ob er oder sie dieses selbst verschuldet haben oder nicht. Sie können im deutschen Recht je nach Delikt gar nicht belangt werden oder nur für den geringeren Strafrahmen der Fahrlässigkeit. Im anglo-amerikanischen und spanischen Raum wäre dies anders. Dort kann gemäß der Regel der willful blindness unter Umständen Wissen bezüglich eines Tatumstandes fingiert werden. Wir fragen, ob das deutsche Strafrecht diese Doktrin übernehmen sollte, und prüfen ihre Rechtfertigung und Voraussetzungen. Diese sind umstritten, sodass hier eine Untersuchung notwendig ist, die auch psychologische, moralphilosophische und erkenntnistheoretische Aspekte umfasst.
4. „Warum hast Du das getan?“ Wie das Strafrecht mit Motiven umgeht
Angenommen, ein Krankenpfleger tötet eine alte Dame. Macht es einen Unterschied, ob er aus Habgier oder aus Mitleid handelt? Intuitiv würden viele die Frage bejahen. Auch das geltende Recht misst dem Tatmotiv große Bedeutung bei: Tötung aus Habgier wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet, Tötung aus Mitleid deutlich milder. Doch woher stammen unsere Vorstellungen darüber, welche Tatmotive „gut“ und welche „schlecht“ sind? Und ist es in einem liberal-säkularen Staat, den eigentlich die Gedanken seiner Bürger nichts angehen, überhaupt statthaft, moralische Vorstellungen über achtenswerte und verwerfliche Motive in das Strafrecht zu übersetzen? In Zeiten, in denen die strafrechtliche Berücksichtigung des Tatmotivs immer lauter gefordert wird (z. B. Hasskriminalität, kulturell/religiös motivierte Kriminalität, Straftaten bei Klimaprotesten), ist die Klärung dieser Fragen unerlässlich.
Ausblick und Output
Diese vier Projekte sind Teil der Agenda der Forschungsgruppe im zurückliegenden und den kommenden Jahren. Wir wollen das Forschungsfeld neu kartieren und die internationale Forschung durch mehrere Publikationen und interdisziplinäre Konferenzen voranbringen. Dies kann ein erster Schritt auf dem Weg zur eingangs genannten transnationalen „Grammatik“ der subjektiven Zurechnung sein.