„Die EU muss sich rüsten“
Ein Interview mit Carolyn Moser über die Notwendigkeit einer eigenen Verteidigungspolitik der EU
Die EU ist kein Verteidigungsbündnis, das Befehlskommando ist rudimentär. Dennoch muss die EU sich wappnen, insbesondere wenn transatlantische Sicherheitsgarantien an Kraft verlieren. Vorschläge gibt es viele, doch was bringen sie? Sicherheitsexpertin Carolyn Moser kennt die Feinheiten des europäischen Sicherheits- und Verteidigungsrechts. Sie leitet die unabhängige Forschungsgruppe Ensure am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und ist Inhaberin des Alfred Grosser Lehrstuhls an der Sciences Po in Paris.
Cyberattacken, Wahlbeeinflussung und Propaganda: Frau Moser, welchen Gefahren sind die Mitgliedsstaaten und die EU als Ganzes derzeit ausgesetzt – oftmals ohne sich dessen bewusst zu sein?
Der Gefahrenkatalog hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Der Strategische Kompass der EU von März 2022 beschreibt die derzeitige Lage recht treffend. An vorderster Stelle wird Machtpolitik als Bedrohung für die EU benannt, also eine Abkehr vom Multilateralismus und einer rechtsbasierten internationalen Ordnung. Zudem ist die Territorialverteidigung wieder in den Fokus gerückt. Terrorismus und Extremismus bleiben ebenfalls akut. Bedeutsam sind aber auch die hybriden Angriffe, die in offenen und pluralistischen Demokratien großen Schaden anrichten können.
Was versteht man darunter?
Hybride Angriffe beschreiben ein breites Spektrum schädlicher Aktivitäten, die von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren mit der bösartigen Absicht durchgeführt werden, ein Ziel wie einen Staat oder eine Institution zu destabilisieren und zu untergraben. Es kommen – meist verschleiert – zivile und militärische Mittel zum Einsatz, die von Einflussnahme und Einmischung durch Desinformationskampagnen und Propaganda in sozialen Netzwerken und Medien bis hin zu hybrider Kriegsführung mit Cyberangriffen auf zentrale Einrichtungen reichen.
Bekommt die Bundeswehr deshalb eine neue Teilstreitkraft für den Cyber- und Informationsraum, wie vom Verteidigungsminister Pistorius jüngst angekündigt?
Ja, in der Tat. Der digitale Raum gilt in der Nato schon seit 2016 als Gefechtsfeld – neben den Dimensionen Land, See, Luft und Weltraum. Man könnte sagen, den veränderten Realitäten des Informationszeitalters folgen nun auch die Strukturen. Die Gefahren, die eine digitale Komponente haben, nehmen exponentiell zu. Neben Hackerangriffen sehen wir vermehrt Desinformationskampagnen und – wie in der Ukraine – Angriffe auf kritische Infrastruktur. Darunter zählen auch hierzulande Energieversorger, Telekommunikationsanbieter, Rechenzentren, Transport- und Verkehrsinfrastruktur sowie Behörden und Unternehmen der Daseinsvorsorge und des Gemeinwesens. Dafür rüstet man sich jetzt.
Wer ist letztlich für Sicherheit und Verteidigung zuständig?
Die Mitgliedsstaaten sind grundsätzlich für die Gefahrenabwehr zuständig. Zudem ist die Nato, die aktuell ihr 75-jähriges Bestehen feiert, ein zentraler Akteur. Zugleich ergreifen auch EU-Institutionen rechtliche wie politische Maßnahmen – Sanktionen werden auf EU-Ebene verhängt – oder geben wesentliche Impulse, wie jüngst in der Rüstungsindustrie. Mitte März hat die Europäische Kommission ihre erste Strategie für Rüstungsindustrie vorgestellt, die es in sich hat: Künftig sollen Rüstungsgüter vorrangig gemeinsam und in der EU beschafft werden – auch mit EU-Geldern, was ein echter Paradigmenwechsel ist.
Das bedeutet mehr EU, weniger Nationalstaat?
Viele der aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Probleme kann man nicht mehr auf nationaler Ebene schultern, sondern muss sie gemeinsam angehen. Das gilt auch für Rüstungsfragen. Hier liegt aus meiner Sicht eine der größten Herausforderungen für die EU und ihre Mitgliedsstaaten: die Stärke des gemeinsamen Handelns wollen und ermöglichen – an beidem hat es in der Vergangenheit gefehlt.
Sollte Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin bekommen, will sie eine Verteidigungskommissarin oder einen -kommissar ernennen. Was halten Sie davon?
Das ist sinnvoll, um Verteidigungsfragen in der EU aufzuwerten. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat wie ein Elektroschock gewirkt. Nun will man die EU und ihre Mitgliedsstaaten so schnell wie möglich verteidigungsfähig machen – in Deutschland beispielsweise unter dem Motto „Zeitenwende“. Allerdings ist Verteidigung in der EU eine zwischenstaatliche Angelegenheit, also eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten, gemeinsame Aktionen bedürfen der Einstimmigkeit im Rat, also der Regierungsvertreter. Die Europäische Kommission ist sozusagen nur Zaungast – außer bei der Rüstungsindustrie. Und hier hätte das neue Kommissionsmitglied einiges zu tun, um Europas strategische Autonomie zu fördern.
Die scheidende Kommission arbeitet an einem Defence of Democracy-Package. Welchen Schutz sieht dieses Paket vor, und wie bewerten Sie es?
Das Paket wurde vergangenes Jahr geschnürt. Es will demokratische Institutionen und Prozesse in der EU vor ausländischer Einflussnahme schützen. Einfallstore für eine solche Einflussnahme sind Lobbyismus und Parteienfinanzierung. Deshalb schlägt das Paket vor, eine einheitliche Transparenzregelung bezüglich Interessensvertretern aus Drittstaaten einzuführen, und macht auch Vorschläge zur transparenteren Parteienfinanzierung.
Kommt dieses Paket noch vor der Europawahl?
Nein, wohl nicht. Ob es danach in seiner aktuellen Form den Gesetzgebungsprozess überstehen wird, ist fraglich. Generell sollten wir uns in der EU stärker gegen Akteure, unter anderem aus Drittstaaten, wappnen, die unsere demokratischen Grundfesten und Gesellschaftsordnung zunehmend angreifen.
Wie sind wir in Europa im Angriffsfall geschützt?
Im Falle eines Angriffs gilt das Selbstverteidigungsrecht, das auch eine kollektive Dimension beinhaltet. Andere Staaten können dem angegriffenen Staat Hilfe und Unterstützung leisten beziehungsweise müssen dies im Rahmen bi- oder multilateraler Beistandsklauseln sogar. Die wirkmächtigste Beistandsklausel ist die der Nato, weil sie einen nuklearen Schutzschirm durch die USA bietet. Das erklärt den Beitritt von Finnland und Schweden zum Bündnis. Und es erklärt auch, weswegen die Europäer zunehmend nervös sind. Die Aussagen von Donald Trump, die kollektive Verteidigung an ausreichende Verteidigungsausgaben zu knüpfen, hat bei vielen Entscheidungsträgerinnen und -trägern in Europa Schnappatmung ausgelöst. Auch die EU verfügt über eine Beistandsklausel, die Frankreich im Zuge der Terrorangriffe von 2015 aktivierte. Dennoch ist die EU im Kern kein Verteidigungsbündnis.
Gibt es ein europäisches Befehlskommando?
Es gibt zwar EU-Auslandsmissionen, aber keine EU-Armee. Und so ist das EU-Befehlskommando rudimentär. Es handelt sich um eine in Brüssel angesiedelte Einheit, die aktuell nur die EU-Militäraktivitäten befehligt, bei denen keine Waffengewalt zum Einsatz kommt – beispielsweise Trainingsmissionen ausländischer Streitkräfte. Für die wenigen EU-Auslandseinsätze, bei denen durch den UN-Sicherheitsrat legitimierte Waffengewalt angewandt wird, wird jeweils eine ad hoc-Kommandozentrale eingerichtet. Das kann sich jedoch ändern, wenn die transatlantischen Sicherheitsgarantien an Kraft verlieren. Immer wieder gibt es Pläne, ein ständiges Hauptquartier für alle EU-Militäraktivitäten einzurichten. Auch ist aktuell viel von einer europäischen Säule in der Nato die Rede, also von einer Art Nato-Untereinheit, die auch ohne die USA operieren könnte.
Könnte Frankreich im Verteidigungsfall Nuklearwaffen abgeben und einem Befehlskommando der EU unterstellen?
Grundsätzlich kann ein Staat, der einem angegriffenen Staat Hilfe und Unterstützung zukommen lässt, frei über die eingesetzten Mittel entscheiden. Diese können humanitäre Hilfe, logistische Unterstützung, Waffenlieferungen, Kampfhandlungen und eben auch nukleare Verteidigung umfassen. Atomwaffen können angesichts bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht einfach „geteilt“ werden – dazu sind die meisten Atomstaaten auch nicht bereit. Bei der nuklearen Teilhabe der Europäer an US-amerikanischen Nuklearwaffen bleibt die Entscheidungsgewalt in Washington. Insofern ist es rechtlich wie politisch höchst unwahrscheinlich, dass Paris seine Nuklearwaffen einem europäischen Befehlskommando unterstellen würde – falls ein solches eingerichtet würde.
Brauchen wir also eine europäische Nuklearwaffe?
Die Frage würde ich anders stellen: Brauchen wir einen europäischen nuklearen Schutzschirm, der unabhängig vom transatlantischen einsatzfähig wäre? Die einen hoffen Nein, die anderen fürchten Ja. Frankreich ist in dieser Sache jedenfalls zentral, da es seit dem Brexit die einzige Nuklearmacht in der EU ist und auch die einzige in Europa, die unabhängig von den USA agieren könnte. Daher wird nun diskutiert, ob Frankreich seine nukleare Abschreckung mit anderen EU-Staaten teilen würde und zu welchen Konditionen. Finanzielle Beteiligungen wären möglich, ebenso wie gemeinsame Übungen. Eine nukleare Teilhabe – also eine Stationierung französischer nuklearer Sprengköpfe in anderen EU-Staaten – sehe ich derzeit jedoch nicht. Von einer europäischen Atombombe, wie jüngst in den Medien diskutiert, sind wir weit entfernt…
Das Interview führte Michaela Hutterer