Die Rückkehr zum Rechtsstaat
Die EU will ihr Verfahren gegen Polen einstellen
Seit einigen Jahren ist in mehreren EU-Mitgliedstaaten ein Rückgang an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beobachten. Die jüngsten Wahlen in Polen haben jedoch gezeigt, dass solche illiberalen Entwicklungen keine Einbahnstraße sind. Die neue Regierung steht nun vor der Herausforderung, die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederherzustellen. Dabei handelt es sich um eine gewaltige Aufgabe, denn die Veränderungen reichen tief. Unser Projekt untersucht, wie europäisches Recht und Institutionen diesen Prozess unterstützen und einhegen können.
Ein Beitrag von Armin von Bogdandy und Luke Dimitrios Spieker, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Unabhängig davon, wie sehr sich eine Regierungspartei bemüht, ihre Macht zu festigen: Keine Regierung währt ewig. In diesem Sinne hat sich eine Mehrheit der polnischen Bevölkerung gegen einen weiteren Abbau demokratischer Rechtsstaatlichkeit entschieden. Den von der PiS betriebenen Umbau des Staates rückgängig zu machen, ist eine gewaltige Aufgabe, denn die Veränderungen der letzten Jahre reichen tief. Dieser Umbau betrifft unter anderem die Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft, die Beschneidung von Frauen- und LGBTIQ-Rechten und nicht zuletzt den Abbau richterlicher Unabhängigkeit. Ein alles bereinigender „Federstrich des Gesetzgebers“, den manche Stimmen fordern, wird die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Polen kaum wiederherstellen können. Nach acht Jahren PiS bedarf es einer Transition 2.0, die an die Transitionsprozesse der 1990er Jahre anknüpft.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fand ein umfassender politischer, sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Wandel statt, der zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern und schließlich zu ihrem EU-Beitritt führte. Diese Staaten mussten zahlreiche Bedingungen erfüllen, um EU-Mitglieder zu werden. Dazu gehörten die so genannten Kopenhagener Kriterien, also Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Trotz dieser Anforderungen blieben die Transitionsprozesse der frühen 1990er Jahre von internationalem oder europäischem Recht relativ unbeeinflusst. Auch wenn das Ausland Inspiration und Unterstützung bot, verfügten diese Länder über einen großen Entscheidungsspielraum, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen, ihren demokratischen Herausforderungen begegnen und ihre Verfassungen zukünftig gestalten wollten.
Europäische Einbettung
Anders als diese Prozesse wird sich eine Transition 2.0 innerhalb einer starken europäischen Einbettung vollziehen. Die jeweiligen Staaten sind Mitglieder der Europäischen Union und des Europarates. Damit sind sie Teil einer europäischen Gesellschaft, die durch die in Artikel 2 des EU-Vertrags verankerten gemeinsamen Werte geprägt ist: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Wenn diese Werte in einem Mitgliedstaat unter Druck geraten, ist die gesamte europäische Gesellschaft betroffen. Europäischem Recht und europäischen Institutionen kommt somit eine zentrale Rolle zu.
Aus diesem Grund haben die EU-Institutionen in den letzten Jahren versucht, den illiberalen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Viele nationale Maßnahmen, wie der Umbau der polnischen Justiz, verstießen gegen europäische Vorgaben, insbesondere gegen die Werte des Artikel 2 EUV. In diesem Gegenwind entwickelten sich die europäischen Mechanismen erheblich weiter. Insbesondere der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällten eine Reihe wegweisender Urteile, in denen sie eine Missachtung der gemeinsamen Werte feststellten.
Das Mandat der EU beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, gegen eine Missachtung der gemeinsamen Werte vorzugehen. Die EU hat auch eine Rolle, wenn es um die Wiederherstellung dieser Werte geht. Zu dieser Dimension gibt es bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.
Beförderung und Begrenzung einer Transition 2.0
In Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Mittel- und Osteuropa, einschließlich des neuen polnischen Justizministers, bietet unser Projekt eine erste Untersuchung, wie europäisches Recht und europäische Institutionen die Transition 2.0 in einem Mitgliedstaat befördern, aber auch begrenzen können. Dabei werden unterschiedliche Aspekte thematisiert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Reform des polnischen Justizsystems. Bei der Umwälzung der polnischen Justiz hat die PiS-geführte Regierung zahlreiche, teilweise politisch loyale Richterinnen und Richter in Verfahren ernannt, die gegen die polnische Verfassung und europäische Werte verstoßen. Vor allem das Verfassungsgericht ist heute nicht mehr als eine Marionette der vorherigen Regierung. Unser Projekt zeigt mögliche Wege zur Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz auf.
Europäisches Recht kann nicht nur die Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat erleichtern, sondern setzt diesem Prozess auch Grenzen. Insbesondere die Verfahren, mit denen die neue Mehrheit gegen Gesetze, Ernennungen und Maßnahmen vorgeht, die gegen die Werte verstoßen, müssen selbst mit diesen Werten in Einklang stehen. Dies erfordert die Wahrung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Rechtmäßigkeit, die integraler Bestandteil der von Artikel 2 EUV garantierten Rechtsstaatlichkeit sind.
Vor diesem Hintergrund erschiene es hoch problematisch, wenn die neue Mehrheit pauschal alle Richterinnen und Richter absetzen würde, die unter der alten Mehrheit ernannt oder befördert wurden. Gleiches gilt für eine Infragestellung aller von ihnen gefällten Urteile. Ein solcher Radikalschlag ist kaum mit Rechtssicherheit und Rechtmäßigkeit vereinbar. Darüber hinaus hat die Wiederherstellung richterlicher Unabhängigkeit in gesetzlicher Form zu erfolgen. Das erschwert die Transition in zweierlei Hinsicht. Einerseits erfordern solche Gesetze die Unterschrift des PiS-freundlichen Präsidenten. Ein bloßer Parlamentsbeschluss ohne die Zustimmung des Präsidenten kann ein formelles Gesetzgebungsverfahren nicht ersetzen.
Andererseits können Reformvorhaben am Verfassungsgericht scheitern, das Parteigänger der PiS dominieren und das entsprechende Gesetze kassieren kann. Eine Neubesetzung dieses Gerichts vor Ablauf der regulären Amtszeiten ist kaum möglich. Denn Richterzahl und Amtsdauer sind in der polnischen Verfassung verankert. Ohne verfassungsändernde Mehrheit können diese Bestimmungen nicht geändert werden. Sofern die Richterinnen und Richter im Einklang mit der Verfassung ernannt wurden, können sie also nicht einfach abgesetzt werden. Ein vorzeitiger Austausch der Richterbank würde genau dem Wert zuwiderlaufen, um dessen Schutz es geht: der richterlichen Unabhängigkeit.
Das Ziel solcher Maßnahmen, also die volle Wiederherstellung demokratischer Rechtsstaatlichkeit, rechtfertigt solche Verletzungen der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht. Ein elementarer rechtsstaatlicher Grundsatz lautet: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Das EU-Recht verlangt somit, dass demokratische Transitionen nicht auf rechtswidrige Weise erfolgen.
An dieser Stelle setzt unser Projekt an: es entwickelt zahlreiche innovative Vorschläge, wie das Unionsrecht eine legale Transition unterstützen kann. Hier sei nur ein möglicher Weg skizziert: Das Unionsrecht und damit auch die Werte des Art. 2 EUV genießen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich seinem Verfassungsrecht. Verstößt also nationales Recht gegen Unionsrecht, darf dieses von allen staatlichen Stellen, Gerichten, der Exekutive und Legislative nicht mehr berücksichtigt werden. Gleiches gilt für Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die gegen Unionsrecht verstoßen. Zusammenfassend: Wegen des Vorrangs des Unionsrechts wären Akte, die gegen die Unionswerte des Art. 2 EUV verstoßen, unanwendbar und stünden der demokratischen Transition grundsätzlich nicht mehr im Wege.