Mehr Trauernde als Todesopfer

Forschungsergebnisse zeigen die langfristigen Auswirkungen des Verlusts von Familienmitgliedern in Kriegsgebieten

29. Juli 2024

Jedes Jahr sind Hunderttausende von Menschen von bewaffneten Konflikten betroffen, direkt durch den Verlust des eigenen Lebens oder indirekt durch den Verlust von Familienangehörigen. Forscherinnen und Forscher haben nun das Ausmaß und die Dauer von Trauer bei Menschen untersucht, die in Konflikten hoher Intensität unmittelbare Familienangehörige verloren haben. Ihre Ergebnisse zeigen, dass bei jedem Todesopfer mehrere Angehörige für den Rest ihres Lebens unter dem Trauma leiden. In Syrien beispielsweise hinterlässt jeder Todesfall durchschnittlich vier trauernde Angehörige – Eltern und/oder Kinder. Die Trauer kann Jahrzehnte andauern, die Versöhnung behindern und möglicherweise zukünftige Gewalt schüren. Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit einer rechtzeitigen und wirksamen Konfliktlösung und einer gezielten Unterstützung für Hinterbliebene.

Bewaffnete Konflikte fordern jeden Tag unzählige Menschenleben, die Zahl derjenigen, die um die durch Konflikte verlorenen Leben trauern, ist jedoch um ein Vielfaches höher. Welche Auswirkungen hat eine wachsende Zahl von Trauernden, und wie lange wird diese Trauer in von Krieg gezeichneten Gesellschaften anhalten?

Forschende des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, des CED - Centre for Demographic Studies und der University of Washington haben das Ausmaß der konfliktbedingten Trauer unter den unmittelbaren Familienmitgliedern - Eltern und Kinder - in einer Untergruppe von Ländern untersucht, die hochintensive bewaffnete Konflikte erleben. Die Forschenden geben außerdem eine Prognose, wie lange und wie intensiv diese Trauer in der Bevölkerung wahrscheinlich anhalten wird. „Bei der Untersuchung von Konflikten und Kriegen konzentrieren sich Demografen oft darauf, wie viele Menschen sterben, wer die Opfer sind und wie sich das auf Aspekte wie die Lebenserwartung auswirkt. Die Zahl der Menschen, die in einem Konflikt sterben, wird zu einem Maß für dessen Intensität“, erklärt Diego Alburez-Gutierrez, Autor und Leiter der Forschungsgruppe für Verwandtschaftsungleichheiten am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. „Die menschlichen Kosten des Krieges lassen dabei einen entscheidenden Aspekt außer Acht. Für jeden getöteten Menschen gibt es Verwandte und Freunde, die überleben und diesen Tod betrauern. Diese Überlebenden sind für den Rest ihres Lebens von diesen traumatischen Erfahrungen betroffen.“

Die Forschenden wollten herausfinden, wie häufig der Tod eines Kindes oder eines Elternteils durch Krieg in den 16 Ländern mit den höchsten konfliktbedingten Bevölkerungsverlusten zwischen 1989 und 2023 vorkommt. Sie verwendeten Daten aus den World Population Prospects der Vereinten Nationen, der Datenbank des Uppsala Conflict Data Program, dem Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und dem B'Tselem-Projekt.

Die anhaltenden Auswirkungen des Krieges

Die Studie beleuchtet die tödlichsten Konflikte der vergangenen Jahre: Syrien, Palästina, Afghanistan und die Ukraine. „Wir stellen fest, dass diese Bevölkerungsgruppen unabhängig davon, wie sich diese Konflikte in Zukunft entwickeln werden, ein erhebliches Maß an Trauer erleben werden“, sagt Alburez-Gutierrez.

Er zieht zwei wichtige Schlussfolgerungen: „Wenn wir uns nur auf die Todesfälle konzentrieren, übersehen wir einen großen Teil der Bevölkerung, der durch den Verlust eines geliebten Menschen gezeichnet ist. Die Zahl der Trauernden übersteigt bei weitem die Zahl der Todesopfer“, erklärt er. So hinterlässt beispielsweise jeder Konflikttod in der Ukraine im Durchschnitt mehr als zwei Angehörige (Eltern und/oder Kinder), in Palästina mehr als 3,5 und in Syrien und Afghanistan etwa vier. Bis Ende 2023 wird schätzungsweise im Durchschnitt einer von 67 Palästinensern im Laufe seines Lebens einen Nachkommen durch den Konflikt verloren haben, in Syrien einer von 20, in Afghanistan einer von 65 und in der Ukraine einer von 200.

Die Prognosen für die Zukunft zeigen ein weiteres wichtiges Ergebnis: Selbst, wenn alle bewaffneten Konflikte sofort beendet würden, gäbe es weiterhin ein hohes Maß an Trauerfällen. „Selbst in einem Szenario, in dem es nach 2023 keine Todesfälle durch Konflikte mehr gäbe, wird nach unseren Schätzungen einer von 142 Palästinensern, die im Jahr 2050 leben, den Tod eines Elternteils durch einen Konflikt erlebt haben, und einer von 200 den Tod eines Kindes“, erklärt Emilio Zagheni, Mitautor und Direktor des Instituts. „In Bevölkerungsgruppen mit einer hohen Jugendsterblichkeit in den Konflikten, wie etwa in Palästina, wird eine beträchtliche Anzahl von hinterbliebenen Eltern im Alter von 30 Jahren und älter das Trauma des Verlusts eines Kindes für den Rest ihres Lebens mit sich tragen. In Gegenden, in denen die Sterblichkeit von Kämpfern oder älteren Menschen höher ist, wie in der Ukraine, wird eine große Zahl von Waisenkindern mit der Narbe des Verlustes eines Elternteils durchs Leben gehen.“

„Länger andauernde und tödliche Konflikte führen zu einer größeren Anzahl von Hinterbliebenen. Dies hat erhebliche negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Überlebenden, verringert die verfügbare emotionale und wirtschaftliche Unterstützung in kritischen Lebensphasen und fördert das Festhalten an extremen Ideologien, die eine soziale und politische Aussöhnung behindern“, fügt Enrique Acosta, Mitautor und Forscher am CED, hinzu. „Unsere Schätzungen der Bevölkerung von Menschen, die durch den Krieg einen Verlust erlitten haben, können dazu beitragen, Maßnahmen zur Unterstützung verschiedener Gruppen von Trauernden auf der Grundlage ihres Geschlechts und Alters zu entwickeln. Die Anpassung von Maßnahmen an die Bedürfnisse bestimmter demografischer Gruppen ist für eine wirksame Unterstützung von entscheidender Bedeutung.“

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht