Schimpansen besitzen Verständnis für Materialeigenschaften
Die Tiere wählen für eine Aufgabe genau das richtige Werkzeug

Auf den Punkt
- Intuitives Verständnis für Materialeigenschaften: Schimpansen wählen gezielt flexible Pflanzenmaterialien zur Herstellung von Werkzeugen für die Termitenjagd.
- Biegsame Materialien: Die von Schimpansen genutzten Pflanzenarten sind bis zu 175 Prozent weniger steif sind als die nicht genutzten Materialien in ihrer Umgebung. Flexible Werkzeuge erleichtern es Schimpansen, sich durch die gewundenen Gänge der Termitenhügel zu bewegen und somit erfolgreicher zu jagen.
- Überregionale Vorlieben: Bestimmte Pflanzenarten werden von Schimpansen bevorzugt, selbst wenn diese bis zu 5000 Kilometer voneinander entfernt leben.
Bei der Herstellung ihrer Werkzeuge legen Schimpansen ein gewisses Maß an Ingenieurskunst an den Tag und wählen die Materialien bewusst nach ihrer Flexibilität und ihren mechanischen Eigenschaften aus. In einer Studie hat ein multidisziplinäres Forschungsteam der Universität Oxford, des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, des Jane Goodall Instituts in Tansania, der Universidade do Algarve, der Universidade do Porto und der Universität Leipzig herausgefunden, dass Schimpansen regelmäßig pflanzliche Materialien wählen, aus denen sich besonders biegsame Werkzeuge zum Angeln von Termiten herstellen lassen. Dies könnte Aufschluss darüber geben, wie frühe Menschen ihre Fähigkeiten zur Werkzeugherstellung entwickelt haben.
„Dies ist der erste direkte Beweis dafür, dass Schimpansen in freier Wildbahn gezielt Pflanzenmaterial mit bestimmten mechanischen Eigenschaften für die Termitenjagd auswählen“, sagt Alejandra Pascual-Garrido, die seit mehr als zehn Jahren die Rohmaterialien erforscht, aus denen die Schimpansen in Gombe ihre Werkzeuge herstellen. Vor Ort hat sie mithilfe eines tragbaren Testgeräts gemessen, wie viel Kraft nötig ist, um jenes Pflanzenmaterial zu biegen, das Schimpansen für ihre Termitenfang-Werkzeuge verwenden. Anschließend verglich sie diese Werte mit Material, das zwar ebenfalls verfügbar, von den Tieren jedoch nie benutzt wird.
Beim Termitenfischen verwenden Schimpansen relativ dünne Stöcke („Angeln“) aus unterschiedlichen Pflanzenmaterialien, um die Insekten aus den Hügeln zu „fischen“. Da Termitenhügel gewundene Gänge haben, vermuteten die Forschenden, dass sich die Termiten mit biegsamen Werkzeugen besser aus den Hügeln fischen lassen als mit starren Stöcken. Das Team testete diese Hypothese und zeigte, dass Pflanzenarten, die die Schimpansen nie benutzten, um 175 Prozent steifer waren als ihre bevorzugten Materialien. Auch unter den Pflanzen, die in der Nähe von Termitenhügeln wuchsen, waren diejenigen, die deutliche Anzeichen einer regelmäßigen Nutzung durch die Affen zeigten, biegsamer als Pflanzen in der Nähe, die keine Anzeichen einer Nutzung aufwiesen.
Das deckt sich mit dem, was Forscherinnen und Forscher schon seit Jahrzehnten vermuteten, als sie Schimpansen beim Termitenfischen beobachteten: Die flexiblen Werkzeuge konnten sich leichter durch die verwinkelten Gänge der Termitenhügel bewegen, was die Nahrungssuche erfolgreicher machte. Bemerkenswert ist, dass bestimmte Pflanzenarten wie Grewia spp. auch von Schimpansengemeinschaften bevorzugt werden, die bis zu 5.000 Kilometer voneinander entfernt leben. Die mechanischen Eigenschaften dieses Pflanzenmaterials könnten der Grund für diese weit verbreitete Vorliebe sein, und ein rudimentäres technisches Verständnis könnte tief in der Werkzeugkultur der Schimpansen verwurzelt sein.
Verbindung von Biomechanik und Tierverhalten

Wild lebende Schimpansen verfügen also möglicherweise über ein intuitives Verständnis von Materialeigenschaften, das ihnen bei der Auswahl der für eine bestimmte Aufgabe am besten geeigneten Werkzeuge hilft. Bei dieser natürlichen technischen Kompetenz geht es nicht nur darum, irgendeinen Stock oder eine Pflanze zu benutzen. Schimpansen wählen gezielt Materialien mit mechanischen Eigenschaften aus, die ihre Werkzeuge effizienter machen. „Dieser neue Ansatz, der Biomechanik mit Tierverhalten verbindet, hilft uns, die kognitiven Prozesse hinter der Werkzeugkonstruktion von Schimpansen besser zu verstehen und zu erfahren, wie sie Materialien nach ihren funktionalen Eigenschaften bewerten und auswählen“, sagt Pascual-Garrido.
Die Ergebnisse werfen spannende Fragen darüber auf, wie dieses Wissen erlernt und von Generation zu Generation weitergegeben wird, beispielsweise wenn junge Schimpansen ihre Mütter beim Werkzeuggebrauch beobachten und dann selbst Werkzeuge benutzen. Außerdem stellt sich die Frage, ob ähnliche mechanische Prinzipien auch bei der Auswahl von Materialien für die Herstellung anderer Werkzeuge zur Nahrungssuche gelten, zum Beispiel für das Fressen von Ameisen oder das Sammeln von Honig. „Diese Entdeckung trägt wesentlich zum Verständnis bei, wie die Vorfahren des Menschen ihre bemerkenswerten Fähigkeiten im Umgang mit Werkzeugen entwickeln konnten“, erklärt Adam van Casteren, Spezialist für Biomechanik und Evolutionsbiologie. "Während vergängliche Materialien wie Holz in archäologischen Funden nur selten erhalten sind, gelten die mechanischen Prinzipien, die der Konstruktion und dem Gebrauch von effizienten Werkzeugen zugrunde liegen, über Spezies- und Zeitgrenzen hinweg.”
Durch die Untersuchung, wie Schimpansen Materialien auf der Grundlage spezifischer struktureller und/oder mechanischer Eigenschaften auswählen, können Forscherinnen und Forscher auch die physikalischen Einschränkungen und Anforderungen besser verstehen, die für die frühe Nutzung von Werkzeugen durch unsere Vorfahren galten. Solche vergleichenden Studien bieten neue Einblicke in frühe Technologien, die aus archäologischen Befunden meist nicht direkt ersichtlich sind.