Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Empathie bei Menschen mit Autismus
Im Alltag – und vor allem in der Interaktion mit Anderen – stellen sich Entscheidungssituationen höchst komplex und unstrukturiert dar. Wollen wir beispielsweise eine Entscheidung darüber treffen, wie vertrauenswürdig oder verärgert ein Gegenüber ist, so müssen in dieses Urteil Informationen über Gesichtsausdruck, Gestik, Tonfall der Stimme und die Anwendung sprachlicher Stilmittel wie etwa Sarkasmus oder Ironie einfließen. Die Fähigkeit, die Gedanken, Gefühle und Absichten unserer Mitmenschen zu verstehen, wird mit „Sozialer Kognition“ oder „Theory of Mind“ bezeichnet. Basierend auf diesem Verstehen der mentalen Zustände Anderer sagen wir Verhalten hervor und passen unser eigenes Verhalten an.
Eine weitere Eigenschaft, die uns hilft, das Verhalten Anderer zu verstehen und vorherzusagen, ist die Fähigkeit zur Empathie. Empathie ergänzt die „Soziale Kognition“ um eine warme, emotionale Komponente: das so genannte Einfühlungsvermögen. Sehen wir eine Person in Not, so verstehen wir ihre Situation also nicht nur gedanklich, sondern können diese auch tatsächlich nachempfinden.
Emotionen wahrnehmen und empfinden
Spätestens seit dem Kinofilm Rainman ist das Krankheitsbild des Autismus einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Und ebenso weit verbreitet ist die Meinung, dass sich Menschen mit Autismus nicht in Andere hineinfühlen können. Dieser Mangel an Empathie gilt als das zentrale Merkmal des Autismus. Umso überraschender ist es, dass in nur wenigen Studien mit Autisten das Merkmal Empathie systematisch untersucht wurde und dabei bislang nicht zwischen kognitiven und affektiven Empathieanteilen unterschieden wurde. Ziel der Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung war es daher, sowohl die kognitive Empathie, das Erkennen und Verstehen emotionaler Gemütszustände, als auch die affektive Empathie, das emotionale Bewerten und Empfinden, bei Menschen mit Autismus differenziert zu erfassen.
Um die kognitive und affektive Empathie differenziert beurteilen zu können, musste zunächst ein neuer, multidimensionaler Test entwickelt werden: Der Multifaceted Empathy Test (MET) besteht aus einer Serie von Fotos, die Menschen in emotional beladenen Situationen zeigen, wie zum Beispiel ein weinendes Kind vor einem abgebrannten Haus. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden gebeten, sich die Fotos anzuschauen und, zur Beurteilung der kognitiven Empathie, die Gefühle der dargestellten Personen zu beschreiben. Bevor sie im zweiten Schritt gefragt wurden, was sie selbst beim Betrachten empfinden beziehungsweise inwieweit sie die dargestellte Situation emotional berührt (affektive Empathie), wurden ihnen die Gefühle der dargestellten Personen korrekt beschrieben. An der Studie nahmen insgesamt 17 Männer und Frauen aus dem Autismus-Spektrum sowie 18 Frauen und Männer mit normalen sprachlichen Fähigkeiten und Sozialkompetenzen teil.
Mitgefühl und Anteilnahme sind bei Autisten genauso ausgeprägt wie bei Gesunden
Es zeigte sich, dass die Autismus-Gruppe tatsächlich Schwierigkeiten hatte, die dargestellten Gefühle korrekt zu beschreiben und im Vergleich zur Kontrollgruppe eine signifikant geringere kognitive Empathie aufwies. Allerdings zeigten beide Gruppen keinen Unterschied hinsichtlich der emotionalen Empathie. Mitgefühl und Anteilnahme waren in der Autismus-Gruppe ebenso ausgeprägt wie in der Kontrollgruppe. Der Einsatz des Multifaceted Empathy Test widerlegte damit die Meinung vom generellen Fehlen empathischer Fähigkeiten bei Autisten. Vielmehr scheinen Menschen aus dem Autismus-Spektrum zwar die sozialen Zeichen, die unserer Inneres nach außen tragen – Gesten, Gesichtsausdruck, Tonfall – schlechter „lesen“ zu können und werden daher oft als teilnahmslos erlebt. Mit der lange unterstellten Unfähigkeit zu Mitgefühl hat dies jedoch nichts zu tun. Wie der Test zeigt, reagieren Menschen mit Autismus emotional adäquat, wenn sie eine korrekte Beschreibung der Gefühle erhalten und so der Mangel an kognitiven Empathieanteilen kompensiert wird.
Unterstützt werden diese Ergebnisse zur kognitiven Empathie durch weitere Untersuchungen, bei denen anstelle der Bilder des Multifaceted Empathy Test (MET) ein Film eingesetzt wurde. Der Movie for the Assessment of Social Cognition (MASC) ist ein Filmtest, bei dem die Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer aufgefordert wurden, sich in die mentalen Zustände der darstellenden Charaktere hineinzuversetzen. Der Einsatz eines Filmformats geht auf die Überlegung zurück, dass die Darstellung von Emotionen durch Ton und bewegtes Bild noch lebensechter gelingt und der Filmtest damit eine höhere Alltagsrelevanz im Vergleich zum Bildtest erreicht.
In weiteren Untersuchungen soll nun gezeigt werden, wie kognitive und emotionale Empathiefunktionen bei Gesunden und bei Menschen mit Autismus im Gehirn repräsentiert sind. Es wird angenommen, dass die beiden Gruppen vor allem für kognitive Empathiefunktionen unterschiedliche Gehirnnetzwerke rekrutieren. Geplant ist hierzu, neben dem Einsatz von MASC und MET, eine Kombination aus strukturellen und funktionell bildgebenden Untersuchungsmethoden (Gehirn-Volumetrie und funktionelle Magnetresonanztomographie), mit denen sich unterschiedliche Bereiche und Funktionszustände des Gehirns darstellen lassen.