Propaganda mit Gefühl - Musik als Instrument gesellschaftlicher Zwecke
Wissenschaftler untersuchen die von Musik ausgelösten Emotionen im Wandel der Zeiten
Musik spricht das Gefühl an und erfüllt unterschiedliche Funktionen. Sie kann Menschen verbinden, Grenzen überwinden, aber ebenso gut solche schaffen. Wenn sich beispielsweise Punkfans über Freunde der Volksmusik lustig machen, ist das noch vergleichsweise harmlos. Anders sieht es aus, wenn Musik zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. Am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erforscht eine Wissenschaftlergruppe um den Historiker Sven Oliver Müller die von Musik ausgelösten Emotionen im Wandel der Zeit. Zusammen mit der Politologin Sarah Zalfen hat er einen Sammelband erstellt, der diese Gefühlswelt im frühen 20. Jahrhundert in den Fokus rückt. Darin geht es darum, welche Rolle musikalische Emotionen in Zeiten von Krieg und Besatzung als Kommunikationsformen verwendet wurden und wie sie wirkten: als Teil der Propaganda, als Instrument der Besatzung und als Strategie des Widerstandes.
Während im besetzten Polen die musikalische Demonstration deutscher Macht mit drastischen Mitteln erfolgte und vom Berufsverbot für polnische Musiker über die Sperrung musikalischer Aufführungen für das polnische Publikum bis hin zur Aneignung polnischer Komponisten reichte, schlugen Göbbels Strategen in Frankreich und den Niederlanden subtilere Töne an. Mit volkstümelnden Weisen oder dumpfer Marschmusik hatte die Musik, die die Nationalsozialisten im Zuge ihrer Propaganda dort durchsetzten, wenig zu tun. Statt Pauken und Trompeten im Vier-Vierteltakt bekamen die Menschen in den besetzten Gebieten Beethoven, Brahms und immer wieder Wagner zu hören.
Doch nach Auffassung der Berliner Forscher erfolgte diese Zwangsbeschallung in den Kulturtempeln mit einer vermeintlich überlegenen „deutschen Musik“ nicht nur im Dienste eines groben Kulturimperialismus. Vielmehr diente der strategische Einsatz nach chauvinistischen Kriterien ausgewählter klassischer Klänge als sozialer Weichspüler. „Das funktionierte gut“, so der Historiker. Denn schon vor dem Krieg war insbesondere die Musik von Wagner in Frankreich sehr beliebt. „Ohne den deutsch-französischen Kulturtransfer im Musikleben der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hätte der Einsatz von Musik im besetzten Paris nicht als erfolgreiche hegemoniale Strategie betrachtet werden können“, ist er überzeugt.
Dadurch, dass die Nazis in der Besatzerzeit Wagneropern auf den Spielplan der Konzerthäuser setzten, instrumentierten sie seine Musik als Besatzerinstrument zum Zwecke der Beruhigung breiter Schichten der Bevölkerung. „Indem sie den gewohnten Musikgenuss boten, knüpften sie an in Friedenszeiten liebgewonnene Traditionen an und vermittelten so Gefühle von Kontinuität und Sicherheit“, so der Historiker, „das kam insbesondere beim Bürgertum gut an.“ Zugleich kaschierte das Aufrechterhalten des Musiklebens die Besatzungsziele. Denn auch der geteilte Genuss von Besatzern und Besetzten bei gemeinsamen Opern- und Konzertbesuchen war selbstverständlich.
Mit seinen drei Hauptkapiteln „Musik als Besatzungsinstrument“, „Bedrohte Musik – Bedrohung Musik“ sowie „Musikalische Antworten auf Krieg und Besatzung“ stellt der Sammelband die unterschiedlichen Funktionen der Musik innerhalb der Besatzungspolitik dieser Epoche vor. Wie die interdisziplinär arbeitende Forschungsgruppe „Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas“ darin auch zeigt, ist die Wahrnehmung, Bewertung und strategische Aneignung von Musik oft äußerst ambivalent. So wurden Richard Wagners Opern gleichermaßen als „Vehikel französischer Machtimplementierung“ und als „Bestandteil eines ‚rheinischen Befreiungskampfes’“ der Deutschen gegen die Franzosen verstanden, berichtet beispielsweise die Konstanzer Historikerin Stephanie Kleiner in ihrem Beitrag, der sich mit der Musikpolitik während der Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg befasst.
Auch Müller hat sich in seinen Arbeiten immer wieder mit dem Phänomen Richard Wagner beschäftigt. „Wegen der Ambivalenz seiner Werke, ist dieser Komponist im Verlauf der Geschichte immer wieder von recht unterschiedlichen Seiten vereinnahmt worden“, so der Historiker. 30 Jahre nach der ideologischen Annektierung durch die Nationalsozialisten, die seine Werke unter anderem wegen des germanischen Heldenkults verehrten, machten sich rund 30 Jahre später die Machtstrategen der DDR Wagners Opern zu eigen. "Die Zwerge in den Nibelungen galten als Prototyp der Proletariers", sagt Müller, der sich speziell mit dem emotionalen Problem Wagner in nächster Zeit intensiver befassen möchte.
BF/HR