Teilen bringt Vorteil
„Meins!“ Eltern kann dieser Ausruf ihrer Sprösslinge zur Verzweiflung treiben. Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist nichtsdestotrotz davon überzeugt, dass Kinder von Geburt an kooperativ und hilfsbereit sind. Im Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, denen die Fähigkeit zur Zusammenarbeit weitgehend fehlt.
Text: Sebastian Kirschner
Moritz zerrt seinen Vater durch die Eingangshalle: „Da, Affe, da.“ Begeistert zeigt der Zweijährige auf die riesigen Affengesichter, welche die Schaukästen im Foyer des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie zieren. Moritz kennt sich aus. Schon dreimal hat er bei einer Verhaltensstudie der Abteilung für Psychologie mitgemacht. Jetzt kommt den beiden der heutige Studienleiter Robert Hepach entgegen und begleitet sie in das Spielzimmer im ersten Stockwerk. An der Treppe fällt Hepach der Schlüssel für das elektronische Türschloss aus der Hand. Moritz ist sofort zur Stelle, bückt sich nach der blauen Plastikscheibe und hält sie dem unbekannten Mann entgegen.
„Solche spontanen Gesten der Hilfsbereitschaft beobachten wir regelmäßig in unseren Studien“, sagt Michael Tomasello, Hepachs Doktorvater und Direktor der Abteilung. Was für uns Erwachsene selbstverständlich klingt, ist für den Entwicklungspsychologen ein faszinierendes Phänomen. Seit 1998 erforscht Tomasello am Max-Planck-Institut in Leipzig die sozialen Fähigkeiten von Kindern und wie sie Sprache lernen. Seit seinem Studium beschäftigt sich der gebürtige Amerikaner mit den Ursprüngen von Verhaltensweisen. „Am meisten interessiert mich: Woher kommt ein bestimmtes Verhalten? Wie entwickelt es sich in der Kindheit, und wie ist es im Laufe der Evolution entstanden?“
Vor zwölf Jahren öffnete im Zoo Leipzig das Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum der Max-Planck- Gesellschaft. „Es gibt nur wenige Orte, an denen man experimentelle Studien mit Menschenaffen durchführen kann. Und nur im Zoo Leipzig werden alle großen Menschenaffenarten gehalten, also Schimpansen, Orang-Utans, Bonobos und Gorillas“, schwärmt Tomasello. „Das ist ein großer Vorteil, denn wenn wir beispielsweise das Verhalten von Mensch und Schimpanse vergleichen, wissen wir nicht, was der ursprüngliche Zustand ist und welche der beiden Arten sich verändert hat. Untersuchen wir dagegen alle vier Affenarten und finden beispielsweise heraus, dass keine von ihnen mit Zeigegesten kommuniziert, einjährige Menschenkinder hingegen schon, so haben vermutlich erst die direkten Vorfahren des Menschen diese Geste erfunden.“
Heute ist die Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie die weltgrößte Forschungseinrichtung zu diesem Thema. Zweiundzwanzig Doktoranden betreut Tomasello zurzeit, zudem kooperiert er mit zwanzig Wissenschaftlern vor Ort. In ausgeklügelten Studien wollen er und seine Mitarbeiter die Besonderheiten der menschlichen Psychologie ergründen. Im Mosaik der Menschwerdung klaffen zwar noch gewaltige Lücken, doch fügen die Psychologen und Biologen mit jährlich rund hundert Publikationen immer neue Steine in das Gesamtbild ein. In seinem neuesten Buch „A Natural History of Human Thinking“, das Anfang 2014 erscheinen wird, erklärt Tomasello, dass die einzigartigen geistigen Fähigkeiten des Menschen entstanden, als sich die Umweltbedingungen in Afrika änderten. Unsere Vorfahren konnten dann nur durch Zusammenarbeit bei der Nahrungssuche überleben. „Im Gegensatz zu Menschenaffen, die meistens einzeln auf Futtersuche gehen und gefundenes Fressen stets vor Ort verspeisen, jagen Menschen gemeinsam und bringen ihre Beute zu einem zentralen Sammelplatz, wo sie dann verteilt wird“, sagt Tomasello.
Die einzige Ausnahme sind Schimpansen, die manchmal in Gruppen Stummelaffen jagen. Trotzdem balgen sie sich anschließend um die Beute. Jeder nimmt, was er kriegen kann. Manche Wissenschaftler bezeichnen dies als Teilen. „Ich glaube aber, dass die Beute einfach zu groß ist, um von einem einzigen Tier allein beansprucht zu werden. Deshalb duldet der Fänger, dass sich auch andere Affen etwas nehmen. Aber wie man teilt, wissen Schimpansen nicht.“
Wer leer ausgeht, hilft nicht mehr
Tomasello schließt dies aus Studien am Zoo Leipzig, wonach zwei Schimpansen nicht mehr kooperieren, sobald die Belohnung auf einem Haufen in der Mitte liegt. Dann nämlich greift sich der dominante Affe alles, das untergeordnete Tier geht leer aus und verweigert fortan die Mitarbeit. Kinder hingegen teilen sich in vergleichbaren Studien die Belohnung.
Tomasello glaubt, dass schon für den letzten gemeinsamen Vorfahren von modernem Menschen und Neandertaler vor über 500 000 Jahren der Erfolg der gemeinsamen Jagd von vertrauenswürdigen Partnern und einer guten Koordination untereinander abhing: Alle erfüllten ihre Aufgabe, waren aufeinander angewiesen und profitierten am Ende von der Zusammenarbeit, denn jeder erhielt einen gerechten Anteil an der Beute. Deshalb bezeichnet Tomasello sein evolutionäres Szenario als Interdependenz-Hypothese. In der lebensnotwendigen kooperativen Nahrungssuche sieht er den Ursprung vieler typisch menschlicher Verhaltensmuster: unseren Enthusiasmus beim Verfolgen gemeinsamer Ziele; unsere Bereitschaft, Wissen freimütig weiterzugeben; unseren Impuls, Notleidenden zu helfen, oder unsere Neigung, Ressourcen gerecht aufzuteilen.
All diese Verhaltensmuster konnten Tomasellos Mitarbeiter schon bei kleinen Kindern beobachten. „Der Vergleich von Affen und Kleinkindern ist deshalb so interessant, weil Kinder unter drei Jahren noch nicht nach den sozialen Normen und moralischen Regeln ihrer Kultur handeln.“ In mehreren Studien konnten Tomasellos Mitarbeiter zeigen, dass Kinder erst im vierten Lebensjahr den Umgang mit Normen und Regeln erlernen, indem sie zum Beispiel bei Verstößen protestieren oder sich gegenseitig ermahnen. „Und dennoch erleben wir unsere jungen Studienteilnehmer als kooperativ, mitteilungsbedürftig und hilfsbereit.“ Tomasello ist überzeugt, dass die bei Kleinkindern sichtbaren Kooperationsformen zu einem großen Teil die frühesten kollektiven Aktivitäten der Menschheitsgeschichte widerspiegeln.
Das Leipziger Psychologenteam konnte zeigen, dass Kleinkinder von sich aus anderen helfen wollen: Sie räumen Hindernisse aus dem Weg, heben heruntergefallene Stifte auf oder zeigen auf gesuchte Gegenstände. Nur: Warum haben schon Zweijährige diesen Impuls zu helfen? Fühlen sie mit, und wollen sie, dass der Betroffene aus seiner misslichen Lage herauskommt? Oder wollen sie vielleicht nur bei ihren Eltern Punkte sammeln?
Um mehr über die Motive der kleinen Helfer zu erfahren, haben die Wissenschaftler eine neue Technik benutzt: Zweijährige Kinder beobachteten, auf dem Schoß der Mutter sitzend, wie Robert Hepach auf einem Tisch Dosen zu einem Turm stapelte. Als ihm die letzte Dose vom Tisch fiel, versuchte er sie vergeblich zu erreichen. Einige Kinder durften jetzt helfen: Fast alle hoben die Dose auf und gaben sie dem Studienleiter zurück. Die Mütter einer zweiten Gruppe sollten dagegen ihre Kinder zurückhalten, falls diese nach der Dose greifen. Kinder einer dritten Gruppe durften ebenfalls nicht helfen, stattdessen kam ein zweiter Erwachsener dem Studienleiter vor den Augen des Kindes zu Hilfe.
Währenddessen erfasste eine versteckte Kamera die Pupillenweite der Kinder. „Sie ist ein guter Indikator für den Erregungszustand: Je aufgewühlter ein Mensch ist, desto stärker weiten sich seine Pupillen“, erklärt Hepach. Die Wissenschaftler verglichen die Pupillenweite direkt nach dem Missgeschick und nach der erfolgten oder unterbliebenen Hilfsaktion der Kinder. Helfende Kinder sind demnach emotional weniger aufgewühlt als Kinder, die nicht selbst einschreiten durften, denn bei ihnen war die Pupillenweitung wieder deutlich zurückgegangen. Derselbe Effekt trat auch bei den Kindern der dritten Gruppe auf: Sie beruhigten sich, wenn die dritte Person einschritt. „Kinder brauchen also gar nicht selber helfend einzugreifen, die Hilfe an sich – und sei es von Fremden – ist entscheidend. Das zeigt, dass die frühkindliche Hilfsbereitschaft nicht nur eine Reaktion auf die Erwartungshaltung der Eltern ist, sondern tatsächlich das Wohlergehen anderer Menschen zum Ziel hat“, folgert Hepach.
Nur gemeinsam ans Ziel
Einen Sinn für Zusammenarbeit besitzen schon Säuglinge. Amerikanische Wissenschaftler haben beobachtet, dass sechs Monate alte Babys Mitmenschen danach beurteilen, ob sie anderen helfen oder nicht. Sie bevorzugen demzufolge hilfsbereite Personen gegenüber Menschen, die nicht helfen oder gar Schaden zufügen – ein weiteres Indiz dafür, dass Hilfsbereitschaft nicht nur angelernt, sondern auch angeboren ist.
Im Alter von drei Jahren entwickeln Kinder dann immer mehr einen Sinn für soziale Verhaltensregeln, zum Beispiel ein Gefühl dafür, dass bei einer Unternehmung die Partner sich gegenseitig helfen sollten. Katharina Hamann hat in ihrer Doktorarbeit untersucht, wie weit sich zwei Kinder unterstützen, wenn sie eine Aufgabe gemeinsam lösen müssen. Um an zwei begehrte Spielsteine zu gelangen, mussten zwei dreijährige Kinder eine mehrstufige Apparatur gemeinsam bedienen.
Eines der Kinder erreichte seinen Stein allerdings früher als das andere und hätte nun die Zusammenarbeit abbrechen können. „Tatsächlich blieben viele Kinder bei ihrem Spielkameraden und halfen ihm, auch an sein Ziel zu gelangen“, sagt Hamann.
War die Apparatur hingegen so eingestellt, dass nur ein Kind auf Kooperation angewiesen war, das andere aber seinen Spielstein sofort entnehmen konnte, fiel die spontane Hilfsbereitschaft deutlich geringer aus. „Kinder empfinden offensichtlich eine stärkere Verpflichtung dem Partner gegenüber, wenn sie sich gemeinsam angestrengt haben“, vermutet Hamann.
Dreijährige spüren also, dass die Zusammenarbeit erst beendet ist, wenn alle ihr zuvor vereinbartes Ziel erreicht haben. Michael Tomasello ergänzt: „Im Tierreich gibt es viele Beispiele für prosoziales Verhalten. Auch Schimpansen zeigen sich in unseren Studien hilfsbereit. Das Einzigartige an der menschlichen Moral ist das Gefühl von gegenseitiger Verbindlichkeit: Wir sollten uns so verhalten.“ Entstanden sind moralische Werte seiner Ansicht nach als Reaktion auf ein immer komplexeres Sozialleben. „Unter Moral fassen wir mehrere psychologische Mechanismen zusammen, die Menschen in Anpassung an ihre hyperkooperative Lebensweise entwickelt haben. Die Gruppe ist der einzige Ort, an dem Moral entstehen kann. Es sei denn, man glaubt an Gott.“
Selbstkontrolle durch schlechtes Gewissen
Dies zeigt Tomasello am Beispiel des schlechten Gewissens. „Ich fühle mich nicht deshalb schlecht, weil die anderen meinen Diebstahl verurteilen, sondern weil wir mich verurteilen! Ich bin Teil der Gruppe und müsste mich selbst bestrafen.“ Ein schlechtes Gewissen ist also eine Art unwillkürliche Selbstgeißelung, um sich vor weiteren unerlaubten Handlungen zu bewahren und damit Sanktionen zu entgehen. Sobald ein Dieb erwischt wird, zeigt er offen seine Schuldgefühle – laut Tomasello wieder eine Anpassung an das Gruppenleben nach dem Motto: „Schaut, ich kenne die Regeln und weiss, dass ich ihnen folgen sollte. Ich bestrafe mich bereits selbst.“ Das soll zeigen, dass er immer noch ein kooperatives Gruppenmitglied ist.
Die Sorge um das eigene Ansehen ist typisch menschlich. Für Tomasello hat auch sie ihren Ursprung in der Kooperation bei der Nahrungssuche. Je mehr unsere Vorfahren auf Zusammenarbeit bei der Jagd angewiesen waren, desto wichtiger wurde für jeden Einzelnen der Ruf, ein guter Kooperationspartner zu sein: „Seht, ich bin ein geschickter Jäger und teile gern meine Beute. Nehmt mich mit, wenn ihr morgen wieder ein Zebra jagen geht.“
Schon Kindergartenkinder betreiben strategisches Reputationsmanagement, Schimpansen dagegen nicht. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie von Jan Engelmann. Er untersuchte, ob sich Schimpansen und fünfjährige Kinder anders verhalten, wenn ihnen jemand zusieht. „Schimpansen geben einem anderen Schimpansen immer gleich viel Futter ab oder stehlen es, egal, ob sie ein Alphatier dabei beobachtet oder nicht“, sagt Engelmann, „Kinder hingegen scheinen sich um ihren Ruf Gedanken zu machen.“
Der Psychologe hatte sich für die Fünfjährigen eine Aufgabe ausgedacht, die zum Stehlen geradezu verleitete: Die Kinder erhielten verschiedene Aufkleber, die sie in eine Art Stickeralbum einkleben sollten. Ein Sticker für das Album fehlte jedoch. Auf der anderen Seite des Tisches lagen ein leeres Album sowie mehrere unbenutzte Aufkleber für das nächste Kind. „Nachdem der Versuchsleiter den Raum verlassen hatte, verfolgten wir über eine versteckte Kamera, ob sich das Kind einen Aufkleber von der gegenüberliegenden Seite nimmt.“
Auf einen guten Ruf bedacht
Ein Teil der jungen Probanden war allein im Raum, die anderen wurden von einem gleichaltrigen Kind beobachtet. Das Ergebnis war eindeutig: Die Kinder nahmen sich seltener die unerlaubten Sticker, wenn ihnen jemand zusah. Um die Hilfsbereitschaft zu prüfen, drehte Engelmann die Verhältnisse um: Er gab einen überzähligen Aufkleber aus und erklärte, dass auf der gegenüberliegenden Seite einer fehle.„Mit Zuschauer ließen mehr Kinder den überflüssigen Aufkleber für das nächste Kind liegen, statt ihn mit nach Hause zu nehmen.“
Der Forscher hat zudem nachgewiesen, dass Fünfjährige dabei überlegt vorgehen und einen guten Ruf bei Angehörigen ihrer eigenen Gruppe höher bewerten: Sie teilten bereitwilliger, wenn ihnen ein Kind aus der eigenen Gruppe zusah. „Dies deutet auf strategisches Denken hin: Kinder aus der eigenen Gruppe sind wichtiger, da ich in Zukunft eher ihre Hilfe brauchen könnte. Deshalb handle ich in ihrer Gegenwart moralisch einwandfrei und teile meine Sticker fair auf“, vermutet Engelmann.
Menschen verfügen über ein ganzes Arsenal psychologischer Mechanismen, um Kooperation in größeren Gruppen aufrechtzuerhalten: einen Sinn für das persönliche Ansehen, ein Gefühl für Fairness, eine Aversion Betrügern gegenüber sowie einen Hang zum Konformismus. Wann in unserer Evolutionsgeschichte wurden diese Mechanismen notwendig? Nach Tomasellos Theorie sind diese Eigenschaften bereits mit dem Auftauchen der ersten modernen Menschen vor circa 150 000 Jahren entstanden. Ein Bevölkerungswachstum sowie zunehmende Konkurrenz um Lebensraum und Nahrung zwischen Gruppen erforderte eine immer engere Zusammenarbeit.
Verwandte Gruppen verschmolzen zu einem Klan, mehrere Klans fühlten sich zu einem Volksstamm gehörig. Das Leben in solch großen Gesellschaften stellte unsere Vorfahren vor ganz neue Herausforderungen: Sie kannten nicht mehr alle Mitglieder ihrer Gruppe persönlich. Immer wieder begegneten sie Fremden, die zwar zum eigenen Stamm gehörten, deren Ruf und Kooperationsfähigkeit sie aber nicht einschätzen konnten.
Betrüger gefährden Zusammenleben
Sie lösten dieses Problem, indem sie Kennzeichen für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe hervorhoben: „Der Fremde spricht meine Sprache, kleidet sich wie ich und kocht nach denselben Rezepten – ich kann davon ausgehen, dass er den gleichen sozialen Normen und Werten folgt wie ich“, beschreibt Tomasello ein mögliches Szenario. In größeren anonymen Gesellschaften war das Zusammenleben zudem durch Betrüger und Trittbrettfahrer gefährdet. Viele unserer moralischen Werte dienen dazu, genau diese Bedrohung einzudämmen: Wir halten unser Wort. Wir bestrafen Diebe. Wir leisten unseren Beitrag. Wir ächten Faulpelze.
Tomasello und seine Mitarbeiter konnten zeigen, dass Kinder ihre Moralvorstellungen in zwei Phasen entwickeln. Viele altruistische Tendenzen bringen Kleinkinder von Natur aus mit. Sie helfen, teilen und kooperieren mit ihrem Gegenüber, lange bevor sie einen Sinn für die Gesellschaft entwickeln. „Wahrscheinlich würden wir bei Kindern sämtlicher Kulturkreise dieselbe angeborene Kooperationsbereitschaft messen können“, prophezeit Tomasello.
Ab dem vierten Lebensjahr entwickeln Kinder ein erweitertes Wirgefühl: ein Wir, das nicht nur den gegenwärtigen Spielpartner einschließt, sondern ein Wir, das alle Kinder der Kindergartengruppe, alle Menschen im Dorf, alle Mitglieder der Gesellschaft umfasst. Sie betrachten ihr Verhalten und das der anderen immer öfter aus der Vogelperspektive, richten sich nach den Konventionen ihrer Kultur und übernehmen moralische Werte: Wir tun einander nicht weh. Wir halten unser Versprechen. Wir lügen nicht. Wir teilen gerecht.
„Solche Moralvorstellungen könnten sich zwischen verschiedenen Kulturen durchaus unterscheiden. Diese Unterschiede entstehen in Anpassung an die jeweilige Lebensweise“, vermutet Tomasello. Eine neue Arbeitsgruppe soll diese Hypothese überprüfen und das Verhalten von Kindern aus verschiedenen afrikanischen Volksgruppen miteinander vergleichen, wie der Samburu, halbnomadischen Viehhirten aus dem Norden Kenias. Dann wird sich zeigen, welche Moralvorstellungen angeboren und welche erlernt sind. Eins ist für Tomasello aber schon jetzt klar: Auch die Samburu-Kinder sind von Natur aus hilfsbereit.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
- Schon Säuglinge teilen bereitwillig und verhalten sich anderen gegenüber hilfsbereit. Offenbar besitzt der Mensch eine angeborene Neigung zur Kooperation.
- Die heute bei Kleinkindern sichtbaren Formen von Zusammenarbeit sind vermutlich ein Abbild der frühesten kollektiven Aktivitäten der Menschheitsgeschichte: Vor über 500 000 Jahren sicherte eine effektive Zusammenarbeit bei der Nahrungssuche das Überleben und gab den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der einzigartigen geistigen Fähigkeiten und des inneren Antriebs des Menschen.
- Ab dem vierten Lebensjahr entwickeln Kinder ein Gefühl für die soziale Gruppe und übernehmen schrittweise die moralischen Werte ihrer Kultur. Der moderne Mensch entwickelte wahrscheinlich soziale Normen, um die Herausforderungen immer komplexerer Gesellschaftsstrukturen zu meistern.