Grammatik als Fenster in die Vergangenheit
Neuer Weltatlas zu Mischsprachen aus der Kolonialzeit lässt deutliche sprachliche Spuren afrikanischer und pazifischer Sprachen erkennen
Ein Wissenschaftlerteam unter Federführung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat einen neuen Atlas zusammen mit der ihm zugrundeliegende Datenbank zu den wichtigsten Struktureigenschaften von Mischsprachen aus Süd- und Nordamerika, Afrika und dem asiatisch-pazifischem Raum veröffentlicht. Die Forscher koordinierten gemeinsam mit der Universität Gießen und der Universität Zürich ein Konsortium von mehr als 80 international renommierten Sprachspezialisten, ein bisher einmaliges Projekt in der vergleichenden Linguistik. Entstanden sind diese Mischsprachen zum großen Teil aus Kontakten zwischen europäischen Händlern und Kolonisten auf der einen Seite und indigenen Völkern und Sklaven aus Afrika auf der anderen Seite. Der Atlas of Pidgin and Creole Language Structure, der bei Oxford University Press und als freie Online-Publikation veröffentlicht wurde, gibt detaillierte Vergleichsdaten zu den syntaktischen und phonologischen Strukturen von 76 Kontaktsprachen. Während die meisten dieser Sprachen das Vokabular aus den Sprachen der europäischen und auch arabischen Kolonisatoren übernommen haben, lassen sich ihre grammatischen Strukturen oft auf die von den Sklaven gesprochenen afrikanischen und pazifischen Sprachen zurückführen. Diese Tendenzen zeigt der Atlas deutlicher als je zuvor.
Aufbauend auf dem Erfolgsmodell des 2005 erschienenen World Atlas of Language Structures leitete das Leipziger Team ein Konsortium von Spezialisten zu 76 Kreolsprachen, Pidginsprachen und anderen aus intensiven Kontaktsituationen entstandenen Mischsprachen. „Gute Kenner von wenig erforschten Sprachen arbeiten oft in Isolation, aber um ein umfassendes Bild zu bekommen, mussten wir ihr Wissen zusammenführen und größere vergleichbare Datenmengen sammeln”, erklärt Susanne Maria Michaelis vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Sie und ihre Kollegen koordinierten über einige Jahre hinweg Sprachexperten zu 25 Sprachen der westlichen Hemisphäre, 25 afrikanischen Sprachen und 26 asiatisch-pazifischen Sprachen. Das Ergebnis ist ein Atlas von 130 Weltkarten, auf dem die Verteilung verschiedener grammatischer Merkmale zu sehen ist, sowie zwei Dutzend weitere Karten mit soziolinguistischen Informationen und zusätzlich etliche Karten zu den verwendeten Lautinventaren.
Viele der Karten zeigen auffallende Ähnlichkeiten zwischen karibischen Sprachen wie Jamaika-Kreol oder Haiti-Kreol und den afrikanischen Sprachen der Sklaven, die seit dem 17. Jahrhundert von den Kolonisatoren zur Arbeit auf den Plantagen gezwungen wurden. Da die allermeisten Sklaven in den Kolonien der Karibik und der amerikanischen Südstaaten aus Afrika kamen, ähneln die karibischen Sprachen den westafrikanischen Sprachen in vielerlei Hinsicht. „Man erkennt das nicht auf den ersten Blick an den Wörtern, die meistens wie im Spanischen, Französischen oder Englischen klingen”, sagt Philippe Maurer von der Universität Zürich. „Aber wenn wir uns zum Beispiel die grammatischen Muster genauer anschauen, die Zeitverhältnisse am Verb ausdrücken, werden wir direkt zu afrikanischen und asiatischen Vorbildern geführt.” Das Jamaikanische etwa verlangt für die Vergangenheit eines Handlungsverbs keine eigene Zeitangabe, im Gegensatz zum Englischen. „Die Männer gruben das Loch” heißt „Di man-dem dig di huol” (vgl. Englisch: „The men dug the hole“). Genauso funktioniert das auch in vielen westafrikanischen Sprachen. Einige Spuren afrikanischer Grammatik finden sich auch im afroamerikanischen Englisch in den USA.
„Grammatische Strukturen können in bestimmten Fällen ältere historische Gegebenheiten bewahren und uns als Fenster in die Vergangenheit dienen, aber sie sind nicht leicht über die Sprachen hinweg zu vergleichen”, bemerkt Martin Haspelmath vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Eine große Herausforderung war es, Vergleichsbegriffe zu finden, mit denen Sprachexperten aus verschiedenen Forschungstraditionen ihre äußerst vielfältigen Sprachen auf einen gemeinsamen Nenner bringen können.” Aber mit dem Atlas und der neuen Online-Datenbank können die Sprachforscher nun eine Vielzahl von Fragen systematischer angehen.
Einzelne Ähnlichkeiten zwischen afrikanischen Sprachen und den von den Nachfahren der Sklaven gesprochenen Mischsprachen sind schon vor längerer Zeit beobachten worden, aber der Atlas of Pidgin and Creole Language Structures bietet nun eine weitaus systematischere Datengrundlage für eine große Bandbreite von grammatischen Strukturen. „Man sieht den Einfluss der indigenen Sprachen ebenso in Asien und im Pazifik, also in Sprachen, die von der traditionellen Kreolistik oft vernachlässigt wurden”, sagt Susanne Maria Michaelis. Im portugiesischen Kreol von Sri Lanka etwa sagt man nicht „Ich mag es” wie im Portugiesischen, sondern “Mir gefällt es”, wie typischerweise in südasiatischen Sprachen.
Der Atlas der Pidgin- und Kreolsprachen wurde als Buch von Oxford University Press veröffentlicht, zusammen mit dem dreibändigen Survey of Pidgin and Creole Languages. Aber die meisten der Informationen zu den Sprachstrukturen sind auch online verfügbar, veröffentlicht vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (http://apics-online.info). Eine größere Menge an Zusatzinformationen, wie etwa detaillierte Literaturangaben und Beispielsätze, ist nur online verfügbar.
SM/MH/HR