Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Die Evolution des menschlichen Gehirns
Das Gehirnvolumen heute lebender Menschen ist etwa dreimal so groß wie das von Schimpansen. Die Gehirnvolumina unserer fossilen Vorfahren, wie zum Beispiel der Art Australopithecus afarensis (bekannt durch ihre wohl berühmteste Vertreterin „Lucy“), waren mit denen heute lebender Schimpansen vergleichbar (Abb. 1). Vor allem in den letzten zwei Millionen Jahren kam es zu einer dramatischen Größenzunahme des menschlichen Gehirns. Diskussionen über die kognitiven Fähigkeiten unserer fossilen Vorfahren oder Verwandten drehen sich daher meist um archäologische Funde und Schädelvolumen. Das Volumen allein kann aber die herausragenden Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nicht hinreichend erklären. Für die kognitiven Fähigkeiten ist die innere Struktur des Gehirns wichtiger als dessen Größe. Diese Vernetzung des Gehirns wird in den ersten Lebensjahren angelegt. Jüngste Forschungsergebnisse betonen daher die Bedeutung des Wachstumsmusters im Laufe der Kindesentwicklung. Wie und wann das Gehirn wächst, trägt entscheidend zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten bei.
Der erste Schritt und seine Folgen
Um das menschliche Gehirn besser zu verstehen, muss man sechs Millionen Jahre zurückblicken, zu dem Zeitpunkt, als die Schimpansenlinie sich von der Linie der menschlichen Vorfahren, der sogenannten Homininen, trennte. Die ersten Stationen dieser Zeitreise nach Afrika haben aber noch nichts mit dem Gehirn zu tun, sondern mit Beinen und Hüfte. Vor etwa sechs Millionen Jahren entwickelte sich innerhalb der Linie der Homininen eine für Primaten ungewöhnliche Art der Fortbewegung: der aufrechte Gang. Da es nur wenige fossile Fragmente aus dieser Zeit gibt, sind viele Details über diesen entscheidenden Schritt noch unklar und umstritten. Sicher ist, dass die Vertreter der Gattung Australopithecus vor 3,6 Millionen Jahren aufrecht gehen konnten. Dieser Zeitpunkt gilt deshalb als gesichert, weil in den 1970er-Jahren die versteinerten Fußspuren von aufrecht gehenden Homininen in Tansania gefunden wurden. Diese Fußabdrücke haben Individuen der Art Australopithecus afarensis in einer Schicht feuchter Vulkanasche hinterlassen, die sich auf exakt 3,6 Millionen Jahre datieren lässt. Die Evolution des aufrechten Gangs ging also der dramatischen evolutionären Expansion des Gehirnvolumens um bis zu vier Millionen Jahre voraus. Diese Chronologie der Ereignisse ist wichtig, weil die evolutionären Anpassungen an den aufrechten Gang das Skelett dramatisch verändert haben. Unter anderem wurde das Becken schmaler und dadurch der Geburtskanal des knöchernen Beckens kleiner [1]. Im Laufe der Evolution der aufrecht gehenden Homininen musste also bei der Geburt ein Baby mit immer größerem Kopf durch den bereits verengten knöchernen Geburtskanal. Die Geburt wurde zu einem immer größeren Risiko für Mutter und Kind und damit auch zu einem evolutionären Risiko für die gesamte Art. Die evolutionäre Lösung für dieses Dilemma war ein Strategiewechsel mit dramatischen Folgen.
Die Lösung eines evolutionären Dilemmas
Nicht nur bei den Vögeln, sondern im gesamten Tierreich gibt es im Grunde zwei Strategien: Nestflüchter und Nesthocker. Nesthocker sind für einen unterschiedlich langen Zeitraum von der Zuwendung der Eltern abhängig und können sich weder alleine fortbewegen noch ernähren. Primaten sind typischerweise Nestflüchter und bereits nach kurzer Zeit sehr selbstständig. Menschenkinder hingegen sind Nesthocker und weichen damit von der Strategie der Primaten ab. Bereits bei der Geburt hat das Gehirn eines menschlichen Babys (Abb. 2A) mit circa 400 ml etwa die Größe eines erwachsenen Schimpansengehirns. Die Speziesunterschiede sind also bereits pränatal eindeutig (Abb. 3A): Schon in der 22. Schwangerschaftswoche nimmt die Wachstumsgeschwindigkeit des Gehirns beim Schimpansen ab [2]. Bei Menschen verdreifacht sich das Volumen des Gehirns in den ersten Lebensjahren (Abb. 3B). Auch bei Schimpansen und anderen Menschenaffen wächst das Gehirn noch nach der Geburt, aber bei Menschen findet ein größerer Anteil des Gehirnwachstums und der Gehirnentwicklung nach der Geburt statt [3]. Im Vergleich zu Menschenaffen nimmt das Gehirn des Menschen im Laufe der Kindesentwicklung also deutlich schneller an Volumen zu und wächst über einen etwas längeren Zeitraum. Relativ gesehen bedeutet das aber eine Verlangsamung der Gehirnentwicklung bei Menschen. Menschliche Gehirne zeichnen sich durch besonders hohe Plastizität aus und sie reifen langsamer heran als etwa die der Schimpansen [4, 5].
Bei Menschen sind zum Zeitpunkt der Geburt zwar alle Nervenzellen bereits angelegt, aber noch kaum miteinander verknüpft. Die ersten Lebensjahre sind entscheidend für die Vernetzung des Gehirns. Klinische Studien haben gezeigt, dass in der frühen Kindheit selbst geringfügige Abweichungen im Muster der Gehirnentwicklung die Struktur des Gehirns und damit Kognition und Verhalten beeinflussen. Dieses dynamische Netzwerk ist das Substrat für Kognition und entwickelt sich besonders beim Menschen unter dem Eindruck der Stimuli außerhalb des Mutterleibes. Die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen, die in den ersten Lebensjahren geknüpft werden, sind bei modernen Menschen wichtig für soziale, emotionale und kommunikative Fähigkeiten.
Versteinerte Gehirnabdrücke
Da Gehirne nicht versteinern, kann man bei Fossilien nur den Innenabdruck des Gehirns und seiner umgebenden Strukturen im Schädel untersuchen. Zuerst werden mittels Computertomografie (CT) hochauflösende dreidimensionale Röntgenbilder der Schädel aufgenommen. Dann wird am Computer ein virtueller Abdruck des Gehirnschädels erstellt (ein sogenannter Endocast). Diese Abdrücke der inneren Schädelkapsel geben Aufschluss über Größe und Gestalt des Gehirns (Abb. 2C). Mit modernsten Mess- und Analysemethoden ist es möglich, die Gestaltveränderungen des Endocasts im Laufe der Kindesentwicklung zwischen lebenden und ausgestorbenen Arten zu vergleichen. Das erlaubt zusätzliche Einblicke in die Evolution des menschlichen Gehirns.
Gehirnentwicklung bei Neandertalern
Ob es zwischen Neandertalern und modernen Menschen Unterschiede in geistigen und sozialen Fähigkeiten gab, ist eines der großen Streitthemen in der Anthropologie und Archäologie. Da Neandertaler und moderne Menschen ähnlich große Gehirne hatten, gehen einige Forscher davon aus, dass auch die kognitiven Fähigkeiten dieser Spezies ähnlich gewesen sein mussten. Manche archäologischen Befunde deuten allerdings auf Unterschiede im Verhalten zwischen modernen Menschen und Neandertalern hin. So konnten Wissenschaftler nachweisen [7], dass sich das Muster der endocranialen Gestaltveränderung direkt nach der Geburt zwischen Neandertalern und modernen Menschen unterscheidet. Das wichtigste Indiz dafür waren die fossilen Fragmente der Schädel von zwei Neandertalern, die bei der Geburt oder kurz danach verstorben waren. Bereits 1914 hatte ein Team französischer Archäologen in der Dordogne das Skelett eines Neandertalerbabys entdeckt. Die versteinerten Kinderknochen wurden aber kaum beachtet und schließlich vergessen. Erst neunzig Jahre später wurden die verschollenen Knochen im Lager des Museums von Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil in Frankreich wiederentdeckt. Die zerbrechlichen Fragmente wurden daraufhin mit einem hochauflösenden µCT-Gerät gescannt und dann an Computern im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig rekonstruiert. Das gleiche Verfahren wendeten die Forscher an den Fragmenten des Neandertalerbabys von Mezmaiskaya im Kaukasus (Abb. 4) an [7]. Zur Zeit der Geburt ist das Gesicht eines Neandertalers bereits größer als das eines modernen Menschenbabys. Die gut dokumentierten Unterschiede in der Gehirngestalt [8] zwischen erwachsenen modernen Menschen und Neandertalern entwickeln sich aber erst nach der Geburt. Sowohl Neandertaler als auch Homo sapiens haben bei der Geburt längliche Schädel (Abb. 2A) mit etwa gleich großen Gehirnen. Erst im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt sich bei modernen Menschen die charakteristisch runde Schädelform. Kurz nach der Geburt sind die Schädelknochen sehr dünn und die knöchernen Nähte sind noch weit offen (deutlich zu sehen zum Beispiel an der Fontanelle). Da sich die knöcherne Gehirnkapsel an das expandierende Gehirn anpasst, bedeutet das, dass die Gehirne von modernen Menschen und Neandertalern von der Geburt bis etwa zum Durchbrechen der ersten Milchzähne unterschiedlich wachsen [7]. Neandertaler und moderne Menschen erreichen also ähnliche Gehirnvolumina im Erwachsenenalter entlang unterschiedlicher Entwicklungsmuster.
Moderne Menschen unterscheiden sich von Neandertalern in einer frühen Phase der Gehirnentwicklung. Sobald die Milchzähne durchgebrochen sind, unterscheiden sich die Wachstumsmuster dieser beiden Menschengruppen allerdings nicht mehr. Diese Entwicklungsunterschiede direkt nach der Geburt könnten Auswirkungen auf die neuronale und synaptische Organisation des Gehirns haben. Erst kürzlich ergaben genetische Studien, dass sich der moderne Mensch vom Neandertaler durch einige Gene unterscheidet, die wichtig für die Gehirnentwicklung sind [9, 10]. Die Ergebnisse der Gestaltanalyse könnten also dazu beitragen, die Funktion jener Gene zu verstehen, die uns vom Neandertaler abheben.
Danksagung
Mein Dank gilt Jean-Jacques Hublin und Simon Neubauer für ihre Unterstützung und die jahrelange Zusammenarbeit an vielen der hier erwähnten Forschungsprojekte. Ich danke Heiko Temming, David Plotzki und Martin Dockner für ihre Hilfe beim CT-Scannen der abgebildeten Individuen, und Lubov Golovanova, Vladimir Doronichev für den Zugang zum Originalfossil von Mezmaiskaya (Abb. 4).