Wie schnell ist die Evolution?
Ein Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation bestimmt den Einfluss zufälliger Mutationen
In der Evolution herrscht der Zufall: Einzelne, zufällig auftretende Mutationen, die zunächst nur wenige Exemplare einer Art betreffen, können nach und nach eine gesamte Population verändern und maßgeblich prägen. Bisher konnten Wissenschaftler den entscheidenden Einfluss solch seltener Mutationen jedoch nicht präzise mathematisch beschreiben - und somit keine exakten Vorhersagen für die Evolutionsgeschwindigkeit treffen. Dem Physiker Oskar Hallatschek vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen ist es nun erstmals gelungen, dieses Problem zu lösen. Die neue Herangehensweise lässt sich dabei nicht nur auf Evolutionsvorgänge anwenden. Auch für das Verständnis der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen und der Ausbreitung von Krankheitserregern bietet die Methode neue Impulse. (PNAS, 27. Dezember 2010)
Im Verlaufe ihrer Evolution passt sich jede Population ständig ihrer Umgebung an. Schärfere Augen, spitzere Krallen oder eine höhere Ausdauer - oft sind es zufällige Mutationen einzelner Individuen, die am Anfang einer solchen Entwicklung stehen. Erweist sich eine solche Mutation als vorteilhaft im Kampf ums Überleben, können sich ihre Träger schneller und effektiver vermehren. Als Folge nimmt die Anzahl der Tiere, Pflanzen oder Viren, die sich durch diese Mutation auszeichnen, mit der Zeit zu - bis eine weitere spontane Genveränderung neue Vorteile bietet. "Mit der Zeit verschiebt sich somit die Verteilung der Fortpflanzungsraten innerhalb einer Population immer weiter zu höheren Werten hin", erklärt Oskar Hallatschek vom MPIDS. Die Spezies vermehrt sich immer schneller.
Mit welcher Geschwindigkeit sich dieser Anpassungsprozess vollzieht, ließ sich bisher nicht zuverlässig berechnen. "Die zufälligen Mutationen entsprechen aus mathematischer Sicht statistischen Fluktuationen", so Hallatschek. "Und diese sind in Formeln kaum in den Griff zu bekommen." Vernachlässigt man hingegen die statistischen Fluktuationen, ergibt sich, dass sich der Anpassungsprozess der Population immer weiter beschleunigt. Dies entspricht jedoch nicht den Beobachtungen in der Natur. Stattdessen gehen Wissenschaftler davon aus, dass sich nach und nach eine konstante Anpassungsgeschwindigkeit einstellt.
Ein geschickter Kniff verhalf dem Göttinger Forscher nun zum Erfolg. Während ältere Modelle die Anzahl der Individuen innerhalb einer Population als konstant voraussetzen, lässt das Modell von Hallatschek kleine Schwankungen der Populationsgröße zu. "Natürlich begrenzt jeder Lebensraum die Anzahl der Tiere, die dort leben können", so der Physiker. Dennoch können beispielsweise in einem milden Winter in einem abgeschlossenen Waldgebiet einige Wildschweine mehr überleben als in einer besonders kalten Saison. Diesem Umstand trägt das neue Modell Rechnung. Die Gleichungen nehmen dadurch eine Form an, die sich deutlich leichter lösen lässt.
In einem ersten Schritt konnte Hallatschek diese Methode nun auf die Evolution bestimmter RNA-Viren anwenden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Mutationen besonders schnell und häufig auftreten. Insgesamt ergaben die Rechnungen Vorhersagen, die mit bisherigen Computersimulationen gut übereinstimmen.
Doch auch in anderen Bereichen lässt sich das neue Lösungsverfahren einsetzen. Voraussetzung ist nur, dass sich eine abzählbare Größe - wie etwa einzelne Tiere - wellenartig ausbreitet und an ihrer Wellenfront zufälligen Schwankungen unterliegt. Dies ist auch bei der Verteilung einzelner Ionen bei einer chemischen Reaktion der Fall oder bei der Verbreitung ansteckender Krankheiten durch einzelne kranke Individuen.