Neutronensterne im Heimcomputer
Astronomen finden mit Einstein@Home massereichstes Doppelsystem
Neutronensterne sind Überreste von Supernova-Explosionen mit ungewöhnlich hoher Dichte und extrem starken Magnetfeldern. Wie ein schnell rotierendes kosmisches Leuchtfeuer senden sie zwei stark gebündelte Radiostrahlen in entgegengesetzte Richtungen aus. Überstreicht ein solcher Strahlenkegel die Erde, lässt sich der Neutronenstern mit großen Radioteleskopen als scheinbar pulsierende Radioquelle am Himmel beobachten. Das Objekt wird daher Pulsar genannt.
Die meisten der bisher 2500 bekannten Radiopulsare am Himmel stehen isoliert und rotieren als Einzelsterne im Weltraum. Nur 255 von ihnen – gut zehn Prozent – gehören zu Doppelsternsystemen; davon besitzt jedoch nur jeder Zwanzigste einen weiteren Neutronenstern als Partner.
„Diese seltenen Doppelneutronenstern-Systeme sind einzigartige Laboratorien für die Fundamentalphysik. Sie ermöglichen Messungen, die sich in keinem irdischen Labor vornehmen lassen“, sagt Bruce Allen, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover, Leiter des Einstein@Home-Projekts und Ko-Autor der jetzt im Astrophysical Journal veröffentlichten Untersuchung.
Die Astronomen benötigen große Teleskope (wie das Arecibo-Observatorium mit seiner 300 Meter durchmessenden Schüssel) sowie empfindliche „Maschinen“ zur Datenanalyse (wie Einstein@Home), um möglichst viele dieser aufregenden Objekte zu entdecken.
Tatsächlich gelang die neue Pulsarentdeckung in den Daten des Arecibo-Radioteleskops. Im Rahmen von PALFA (Pulsar Surveys with the Arecibo L-Feed Array) sucht ein internationales Team mit der Antenne nach neuen Radiopulsaren. 171 Pulsare haben die Forscher bisher entdeckt. Die Daten werden auch im Rahmen des Einstein@Home-Projekts auf einer Vielzahl vernetzter Computer analysiert; allein damit ließen sich in der Vergangenheit 31 neue Pulsare identifizieren.
Einstein@Home vereint die Computerleistung von mehr als 40.000 Nutzern weltweit, die sich mit rund 50.000 Laptops, PCs und Smartphones an dem Projekt beteiligen. Das Projekt ist eines der größten überhaupt im verteilten Rechnen auf freiwilliger Basis, und seine gesamte Computerleistung von 1,7 Petaflops pro Sekunde macht es zu einem der 60 leistungsfähigsten Supercomputer weltweit.
Nach der Entdeckung des Doppelsternsystems im Februar 2012 beobachteten die PALFA-Wissenschaftler das Objekt regelmäßig mit dem Arecibo-Teleskop, um die Umlaufbahn des Radiopulsars möglichst präzise zu vermessen. Dieser dreht sich in 27,2 Millisekunden einmal um seine Achse, was 37 Umdrehungen pro Sekunde entspricht. Die Messungen ergaben, dass dieses inzwischen als PSR J1913+1102 bezeichnete Objekt (im Namen stecken die Koordinaten der Position am Himmel) aus zwei Sternen besteht, die einander in etwas weniger als fünf Stunden in einem leicht elliptischen Orbit umkreisen.
Aus der Verlangsamung der Rotationsperiode mit der Zeit konnten die Wissenschaftler das Magnetfeld des Pulsars berechnen. Es ist einige Milliarden mal stärker als jenes der Erde. Für einen Neutronenstern bedeutet dies einen relativ schwachen Wert; er weist darauf hin, dass in der Vergangenheit Materie vom Begleitstern durch Akkretion aufgenommen wurde. Eine solche Akkretionsphase würde aber auch zu einer kreisförmigen Umlaufbahn führen.
Allerdings beobachteten die Astronomen einen elliptischen Orbit: Offenbar ist auch der Begleitstern bereits als Supernova explodiert und hat einen zweiten Neutronenstern in diesem System erzeugt. Durch die Supernova-Explosion wurde zwar nicht das gesamte System auseinandergerissen, aber die Umlaufbahnen beider Komponenten elliptisch verformt.
Die Forscher haben eine direkte Auswirkung von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie in diesem Doppelsternsystem nachgewiesen. Wie die Umlaufbahn des Planeten Merkur um die Sonne, so rotiert auch die elliptische Umlaufbahn des Pulsars im Laufe der Zeit. Während diese Drehung bei Merkur aber nur 0,0001 Grad pro Jahr beträgt, verläuft sie beim Orbit von J1913+1102 etwa 47.000-mal schneller; das sind volle 5,6 Grad pro Jahr. Das Ausmaß dieses Effekts, der relativistischen Periastron-Verschiebung, hängt von der Gesamtmasse des Systems von Radiopulsar und Begleiter ab und ermöglicht so die Berechnung dieser Masse.
„Mit insgesamt 2,88 Sonnenmassen haben wir einen neuen Rekord für die Gesamtmasse eines Systems mit zwei Neutronensternen“, sagt denn auch Paulo Freire, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn. „Wir würden erwarten, dass der Pulsar mehr Masse aufweist als sein Begleiter, aber mit unseren Beobachtungen konnten wir bisher die Einzelmassen von Pulsar und Begleitstern noch nicht präzise bestimmen.“ Zukünftige Messungen sollten das ermöglichen.
Falls der Pulsar in der Tat wesentlich massereicher sein sollte als sein Begleitstern, würde dieses System sich deutlich von allen bis jetzt bekannten Doppelneutronenstern-Systemen unterscheiden. In diesem Fall könnte es sich sogar als eines der besten bekannten natürlichen Laboratorien zum Test von alternativen Gravitationstheorien erweisen.
Da der Begleitstern ebenfalls ein Neutronenstern ist, könnte er im Prinzip auch als Radiopulsar nachgewiesen werden – vorausgesetzt, dass die Geometrie stimmt und der gebündelte Radiostrahl die Erde überstreicht. Das scheint allerdings für J1913+1102 nicht der Fall zu sein. Die Forscher haben die gesamten Daten sehr sorgfältig auf Radiopulse des Begleiters hin untersucht, fanden dafür jedoch kein Anzeichen.
Während die beiden Neutronensterne einander umkreisen, werden die Orbits kleiner. Beide nähern sich einander an, weil das Gesamtsystem Energie durch Abstrahlung von Gravitationswellen verliert. Die Vermessung dieses Effekts sollte die Bestimmung der Einzelmassen von Pulsar und Begleitstern ermöglichen. Die Astronomen hoffen, so mehr über die wenig bekannte stellare Entwicklung in solchen Doppelsternsystemen und bisher unbekannte Eigenschaften von Materie mit der Dichte eines Atomkerns zu erfahren.
Diese Entdeckungen gewinnen eine zusätzliche Bedeutung vor dem Hintergrund der Entdeckung von Gravitationswellen im September 2015 mit den beiden LIGO-Detektoren. „J1913+1102 hilft uns besser zu verstehen, in welchem Zeitrahmen solche Systeme miteinander verschmelzen. Damit können wir herausfinden, wie oft wir Signale von kollidierenden Neutronensternen mit Advanced LIGO entdecken werden“, sagt Michael Kramer, Direktor am Max-Planck-Institut für Radioastronomie.
KNI / NJ / HOR