Schneller, höher, stärker
Wie produktiv sind ältere Menschen?
In der öffentlichen Debatte wird oft angenommen, dass die Produktivität von Arbeitnehmern mit dem Alter sinkt. Schließlich sind ältere Menschen körperlich weniger fit und langsamer als jüngere. Dass die Arbeitsleistung darunter nicht leiden muss, zeigen zwei Studien des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik
Text: Christian Hunkler
Im Alter zwischen 55 und 64 Jahren gehen viele Arbeitnehmer in Rente. Das führt zu der verbreiteten Annahme, Ältere seien nicht mehr in der Lage, mit dem Grundsatz „Schneller, höher, stärker” mitzuhalten. Entsprechend ist eine Verlängerung des Arbeitslebens für viele schwer vorstellbar. Dabei wird allerdings ignoriert, dass die Erwerbsbeteiligung Älterer noch Anfang der 1970er-Jahre bei etwa 80 Prozent lag und erst danach auch durch die strukturellen Arbeitsmarktprobleme bis Mitte der 1990er auf unter 60 Prozent gesunken ist. Seit den Reformen der Agenda 2010 hat die Erwerbsbeteiligung Älterer aber fast wieder das Niveau der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung erreicht (die Zahlen beziehen sich auf OECD-Daten zu Männern im Alter von 55 bis 64 Jahren).
In ähnlicher Weise wurde die vermeintlich mit dem Alter sinkende Produktivität als Argument für Frühverrentungsregelungen verwendet. Und vermutlich wurden auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ihren individuellen Entscheidungen von dieser Auffassung stark beeinflusst. Theoretisch und auch empirisch gibt es allerdings keine Gründe anzunehmen, dass die Produktivität ab einem bestimmten Alter deutlich sinkt.
Sinkende Fähigkeiten schon ab 30
Produktivität kann allgemein als Funktion von körperlichen und kognitiven Fähigkeiten sowie Erfahrung in bestimmten Kontexten definiert werden. Die physiologischen und kognitiven Fähigkeiten erreichen schon relativ früh – je nach Indikator im Alter von unter 20 bis etwa 30 Jahren – ihr Maximum und nehmen dann stetig ab. Dagegen wachsen die Berufserfahrung im Besonderen und die Lebenserfahrung im Allgemeinen mit dem Alter.
Wie stark die physiologischen und kognitiven Fähigkeiten die Produktivität beeinflussen, ist hauptsächlich davon abhängig, ob der Arbeitskontext es erlaubt, gesammelte Erfahrungen produktiv einzusetzen. Sicherlich: Ab einem bestimmten Alter werden die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten soweit abgenommen haben, dass die Produktivität auf jeden Fall sinkt. Unter der Voraussetzung der deutlich gestiegenen gesunden Lebenserwartung ist es allerdings eine empirische Frage und auch vom Arbeitskontext abhängig, in welchem Alter dies tatsächlich der Fall ist.
Ältere dienen der Produktivität im Team
In zwei Fallstudien wurden am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik anhand großer Datensätze der Zusammenhang zwischen Produktivität und Alter untersucht. Die erste Fallstudie untersuchte die Produktivität in einem LKW-Montagewerk, in dem jüngere und ältere Mitarbeiter an einem gleich schnell laufenden Montageband arbeiteten. Um die Produktivität zu messen, wurde die Anzahl an Fehlern und die Schwere dieser Fehler herangezogen.
Die zweite Studie untersuchte einen Finanzdienstleister. Hier wurde die Produktivität als Anzahl ausgeführter Vorgänge innerhalb jedes Arbeitsteams standardisiert gemessen. In beiden Fällen wurde nicht die Produktivität der Individuen, sondern die des gesamten Teams erfasst und dies täglich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren hinweg. Die erste Studie basierte auf fast 1,7 Millionen Beobachtungen von 3.824 Arbeitern in 100 Teams, die zweite Studie auf mehr als 4,6 Millionen Beobachtungen von über 10.000 Angestellten in circa 1.500 Teams.
Ältere machen seltener teure Fehler
In beiden Untersuchungen zeigten sich keinerlei Hinweise darauf, dass die Produktivität bis zum Alter von 65 abnimmt. Für das LKW-Montagewerk steigt die Produktivität bis zum Alter von 65 sogar leicht an. Betrachtet man die Anzahl an Fehlern pro Mitarbeiter und die Schwere der Fehler, zeigt sich, dass ältere Mitarbeiter zwar öfter Fehler machen, jedoch seltener solche, die hohe Kosten verursachen.
Dieser Befund kann als Relevanz der Erfahrung oder Stressresistenz interpretiert werden oder auch als Menschenkenntnis der älteren Mitarbeiter, die gerade in schwierigen Situationen besonders wichtig wird. Insgesamt scheint der Erfahrungseffekt den Rückgang der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten in einem Bereich aufzuwiegen, in dem diese besonders relevant sein sollten – zumindest bis zum Alter von 65 Jahren.
Bessere Leistungen bei komplexen Aufgaben
Bei der zweiten Fallstudie finden sich ebenfalls Hinweise auf die Relevanz von Erfahrung. Während sich die Produktivität über den beobachteten Altersbereich von 20 bis 65 im Durchschnitt kaum verändert, zeigen sich interessante Unterschiede, wenn man verschiedene Arten von Tätigkeiten betrachtet. Bei leichteren Routinetätigkeiten sinkt die Produktivität mit dem Alter. In Teams, die kompliziertere Vorgänge bearbeiten, steigt die Produktivität dagegen mit dem Alter an.
Erfahrung kompensiert den Rückgang der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten nicht nur, sondern kann die Produktivität sogar positiv beeinflussen. Dabei kommt es jedoch auf den Arbeitskontext an. Die Arbeitserfahrung, die den Umgang mit komplexen oder schwierigeren Fällen erleichtern kann, zahlt sich offensichtlich nicht bei jeder Art von Tätigkeit aus.
Längeres Arbeitsleben als Chance
Die steigende Lebenserwartung bringt es mit sich, dass wir einen Teil der zusätzlich gewonnenen Jahre voraussichtlich in Erwerbsarbeit verbringen werden. Die erfreuliche Nachricht dabei ist, dass dies für die meisten Menschen auch eine produktive Zeit sein wird.
Die zentrale Herausforderung für jeden einzelnen ist, die Verlängerung des Arbeitslebens als Chance zu begreifen. Letzteres macht es erforderlich, die eingeschlagene berufliche Laufbahn und den Arbeitskontext im Blick auf ein möglicherweise etwas längeres Berufsleben kritisch zu hinterfragen. Ist es in der aktuell ausgeübten oder angestrebten Tätigkeit möglich, bis zu einem wahrscheinlich etwas späteren Renteneintritt zu arbeiten? Welche neuen Fähigkeiten oder Technologien kann man erlernen, um dies zu ermöglichen oder um möglichst problemlos in ein anderes Arbeitsumfeld zu wechseln? In welchen Kontexten kann die gewonnene Erfahrung von Nutzen sein?
Das sind allerdings alles keine neuen Herausforderungen: Je nach eingeschlagenem Beruf, der Geschwindigkeit des technologischen Wandels in diesem Bereich oder auch der Verlagerung von Arbeitsplätzen sind und waren diese Fragen auch schon in den „guten alten Zeiten” mehr oder weniger relevant. Der zentrale Unterschied ist, dass man sich diese Fragen für einen um zwei bis drei Jahre längeren Zeitraum stellen sollte als bisher.
Arbeitsorganisation an Altersstruktur anpassen
Für größere Firmen sollte die systematische Analyse der Altersstruktur der Belegschaften und ihre bereits abschätzbare Entwicklung schon Standard sein, vor allem vor dem Hintergrund des seit Jahren beklagten Fachkräftemangels. Ähnliches gilt für die Analyse der individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten sowie für die Verteilung der Mitarbeiter auf möglichst vorteilhafte Arbeitskontexte. Mittlere und kleinere Firmen könnten bei der der systematischen Analyse und im Hinblick auf alternative Einsatzmöglichkeiten Unterstützung benötigen.
Ein direkt an die LKW-Montage anschließendes „Best-Practice”-Beispiel ist in einigen Audi-Werken die Umstellung auf sogenannte Fertigungsinseln statt der Montage am Fließband. Die gestiegenen Individualansprüche der Käufer, etwa was Farben oder Ausstattungsvarianten angeht, bringen die klassische Fließbandfertigung an ihre Grenzen. Durch modulare Montage, die mithilfe digitaler Steuerungssysteme umsetzbar wird, können einerseits effizient Autos individuell montiert werden; andererseits ist es dadurch auch möglich, den Einheitstakt, der in der Fließbandproduktion nötig ist, zu dynamisieren. Damit gibt es grundsätzlich mehr Möglichkeiten, Arbeitskontexte auf die individuelle Leistungsfähigkeit der Belegschaft abzustimmen und gleichzeitig die Produktivität insgesamt zu steigern.