Nicht nur zur Krisenzeit
Leon Wansleben, Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wirft einen analytischen Blick auf die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Aktivitäten des Staates. Es zeigt sich, dass der Staat nicht mehr alles dem Markt überlässt, sondern wirtschaftspolitisch aktiv wird.
Text: Wolfgang Mulke
Manch überzeugte Marktwirtschaftler reiben sich derzeit ungläubig die Augen. Mit aller Macht stemmt sich der Staat gegen die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, selbst vor der Beteiligung an Unternehmen schreckt die öffentliche Hand nicht zurück. Das war in den vergangenen Jahrzehnten kaum vorstellbar.
„Lange haben Regierungen rund um die Welt Märkte stark gefördert und den öffentlichen Sektor zurückgefahren“, erläutert Leon Wansleben, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Nun sei das Gegenteil zu beobachten. Der Staat sei finanziell sehr aktiv geworden. Er steuert zum Beispiel durch eine starke Verschuldung der Krise entgegen. „Der Prozess wird unter Corona besonders deutlich sichtbar“, sagt Wansleben. Der 38-jährige Soziologe leitet seit 2019 die Forschungsgruppe „Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“ am Kölner Max-Planck-Institut. Noch unbeantwortete Fragen gibt es in diesem Gebiet zuhauf. Was beeinflusst die staatliche Wirtschaftspolitik, und wer sind hier die Akteure? Welchen Rationalitäten unterliegen sie, und welche Interessen und Ideen spielen dabei im Hintergrund eine Rolle?
Markt und Staat vermischen sich
Die Forschungsgruppe widmet sich unter anderem der Wirtschaftssoziologie. Die idealtypischen Vorstellungen von Markt und Staat träfen nicht zu, so die These der Gruppe. Viele Ökonomen gehen von zwei getrennt agierenden, homogenen Einheiten aus. Doch Markt und Staat vermischen sich an vielen Stellen. Ein Beispiel sind die Energiemärkte, in denen die Kommunen vielfach im Wettbewerb mit privaten Anbietern aktiv sind. Wansleben will herausfinden, wie diese Märkte konkret strukturiert sind und welche Rolle der öffentliche Sektor darin spielt. Diese Projekte sind Teil einer umfangreichen Untersuchung über die Rolle des Staates als wirtschaftlich handelnder Akteur. Die wirtschaftlichen Interventionen nehmen vielfältige Formen an. Das Spektrum reicht von direkten Beteiligungen an Unternehmen, die durch Krisen in eine Schieflage geraten sind wie die Lufthansa oder die Commerzbank, über Investitionsfonds oder die Förderbank KfW bis hin zu den kommunalen Unternehmen.
Wansleben untersucht, warum sich Parlamente und Regierungen seit den 1980er-Jahren nach und nach aus der wirtschaftspolitischen Steuerung zurückgezogen und diese den Notenbanken überlassen haben. „Kennzeichen für die Dominanz der Notenbanken sind ihre starke Unabhängigkeit, die zunehmende Aufmerksamkeit der Medien und ihre Führungsrolle, wenn es um die Bekämpfung finanzieller und konjunktureller Krisen geht“, erläutert Wansleben. Das sind Indizien für ihren Machtzuwachs in den vergangenen Jahrzehnten. Sie sorgen dafür, dass die Inflation gering bleibt, stabilisieren die Konjunktur oder halten klamme Staaten über Wasser. Kaum eine Nachrichtensendung, in der nicht der Name einer Zentralbank fällt.
Notenbanken als Krisenmanager
Früher steuerten Notenbanken wie die Bundesbank in Deutschland die Inflation über die im Umlauf befindliche Geldmenge. Erhöhten sie die Zinsen, hielten sich Verbraucher und Unternehmen mit Ausgaben zurück und legten das Geld lieber an. Der Preisdruck ließ nach. Bei einer Zinssenkung entstand der gegenteilige Effekt. Heute steuern sie nicht mehr mittels Geldmengen, sondern passen ihre Zinspolitik nach einem analytischen Blick auf die Preisentwicklung in den Güter- und Dienstleistungsmärkten an die Entwicklung an. Das birgt ein Problem. Denn Vermögensmärkte, etwa Aktien oder Immobilien, werden bei diesem Ansatz nicht berücksichtigt. Preisblasen hier können, wenn sie platzen, schnell zu wirtschaftlichen Krisen führen. Wie schnell, das zeigte die Finanzkrise 2007 bis 2009.
Obwohl die Bundesbank, die US-amerikanische Federal Reserve, kur Fed, und andere Zentralbanken ihren gewachsenen Einfluss zunächst auf ihr unterschiedliches Vorgehen gegen Inflationsgefahren gründeten, rückte das Inflationsproblem zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen drängten sich Wachstumsschwäche, sinkende Realzinsen und die Expansion des Finanzsektors als Probleme auf. Die Notenbanken wurden zu den wichtigsten Krisenmanagern, etwa als die Dotcom-Blase zur Jahrhundertwende platzte oder nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center 2001.
„Ich versuche zu erklären, warum die Zentralbanken so erfolgreich sein konnten, obwohl sich im Hintergrund die Finanzkrise zusammenbraute“, erklärt Wansleben sein Forschungsprojekt, „und welche institutionellen Bedingungen den Machtzuwachs begünstigt haben.“ Mit diesem Thema hat er sich bereits vor seinem Wechsel nach Köln beschäftigt, als er noch an der London School of Economics and Political Science lehrte. Ein Ergebnis der Arbeit lautet, dass die Notenbanker sozusagen der Stabilisierungsanker einer vom Finanzmarkt dominierten Wirtschaft sind. Sie dämmen Unsicherheiten an den Märkten ein, vor allem durch eine erwartbare Zinspolitik und die Umwandlung privat geschöpfter Kredite in hoheitliche Zahlungsmittel.
Letzteres geschieht zum Beispiel durch den Ankauf von Anleihen. Das Ausmaß dieser Stabilisierungsversuche lässt sich an den Bilanzsummen der Notenbanken ablesen. Die Bilanzsumme der EZB liegt schon bei der Hälfte der Wirtschaftsleistung der Eurozone, die der Fed bei rund 30 Prozent. Hier kommt der soziologische Forschungsansatz ins Spiel. Warum, so fragt Wansleben, haben die nationalen Parlamente und Regierungen ihre Autorität und Handlungskompetenz in der Wirtschaftspolitik über einen so langen Zeitraum vernachlässigt?
Diese Selbstentmachtung wird in der Steuerpolitik deutlich. In den vergangenen Jahrzehnten wurde diese immer weniger zu Umverteilungszwecken eingesetzt. Auch zur politischen Adressierung von Herausforderungen wie dem Klimawandel blieb diese weitestgehend ungenutzt. Wansleben sieht allerdings den nächsten Wandel vor der Tür stehen. „Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass Zentralbanken heute mit ihren Konzepten wirtschaftlicher Steuerung und ihren konkreten Interventionen an Legitimations- und Effektivitätsgrenzen stoßen“, sagt er.
Mangelnde Transparenz bei städtischen Betrieben
Die Politik der Notenbanken ist schon länger umstritten. Mit gewaltigen Geldmengen kaufen sie Staats- und Unternehmensanleihen auf, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Mit einer Nullzinspolitik wollen sie die Kreditvergabe an die Wirtschaft beflügeln. Beides wirkt nicht in gewünschtem Maße. Kritiker in Europa befürchten beispielsweise, dass die EZB indirekt die Staatsverschuldung der südeuropäischen Länder vergemeinschaftet, indem sie immer mehr Anleihen der Staaten kauft. Und auch das Inflationsziel von zwei Prozent liegt weit entfernt. Es sei nun die Aufgabe der demokratischen Institutionen, neue Zugänge und Instrumente der wirtschaftspolitischen Steuerung anzugehen.
Seine beiden anderen Projekte am Kölner Max-Planck-Institut stehen noch am Anfang. Gleichwohl lassen sie jetzt schon spannende Ergebnisse erhoffen. In einem der Forschungsvorhaben geht es Wansleben um die kommunalen Institutionen des Staates. Am Beispiel Köln untersucht er die wirtschaftlichen Tätigkeiten der öffentlichen Hand. Das Stichwort lautet Daseinsvorsorge. Der Begriff ist nicht exakt definiert, sondern „bewusst vage formuliert“, wie der Forscher anmerkt. Der Staat darf tätig werden, wenn ein öffentliches Interesse daran besteht. Die Stadt Köln interpretiert diese Voraussetzung recht großzügig. Sie ist zum Beispiel über den kommunalen Betrieb Netcologne Netzbetreiber und sie hat ein europaweit aktives Schifffahrtsunternehmen gekauft. Was der Staat darf und sinnvollerweise ökonomisch unternimmt, findet Wansleben „eine total spannende Frage.“
Doch der Blick in den Maschinenraum des Staates soll auch offenlegen, wer das Handeln der Institutionen beeinflusst. Insbesondere bei städtischen Betrieben sieht Wansleben hier einen Mangel an Transparenz hinsichtlich der Entscheidungsfindung. Politiker wollen sich demnach nicht gerne dem demokratischen Diskurs über die Geschäftsausrichtung der städtischen Betriebe stellen. Zu groß scheint die Sorge vor einer Skandalisierung ihrer Entscheidungen. Stattdessen befasst sich die öffentliche kommunalpolitische Debatte eher mit marginalen Themen.
In einem weiteren Vorhaben untersucht Wansleben mit seiner Forschungsgruppe die Investitionen des öffentlichen Sektors der Kommunen in Deutschland. Anfang des Jahrhunderts kürzten die Städte und Gemeinden generell ihre Investitionsbudgets. „Anschließend setzte ein Divergenzprozess ein“, sagt Wansleben. Die Kommunen entwickelten sich auseinander. Vor allem in den wohlhabenden südlichen Bundesländern steckten sie wieder mehr Geld in ihre Infrastruktur. Dagegen sparten die Kämmerer in anderen Regionen weiter. Die Folgen waren dort für die Bürger schnell sichtbar. Die Infrastruktur verfiel, viele Schulen wurden baufällig und nicht ausreichend instand gehalten, oder der Wohnungsbau wurde vernachlässigt. „Das föderale System hat unter dem Spardruck der Nach-Wiedervereinigungszeit dazu geführt, dass die Kommunen fiskalisch unter Druck geraten sind“, vermutet Wansleben. Hohe Fixausgaben, etwa für Sozialleistungen, haben den ärmeren Städten und Gemeinden die Spielräume für Investitionen genommen. Zudem nehmen sie nur wenig Geld aus der Gewerbesteuer ein.
„Das Thema hat eine gewisse Brisanz in diesen Tagen“, weiß der Forscher. Das Bevölkerungswachstum in den Städten ist stärker als erwartet. Sie müssen ihre Infrastruktur ausbauen. Dazu kommen noch die notwendigen Investitionen für den Klimaschutz, etwa ein besseres Angebot im öffentlichen Nahverkehr. Die Coronakrise liefert derzeit einen Beleg für die wieder aktivere Rolle des Staates. Der Bund unterstützt die Kommunen finanziell massiv. Schließlich liegen auch die wichtigsten Aufgaben bei der praktischen Bewältigung der Pandemie bei den Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der von der Bundesregierung angekündigte Ausbau der Gesundheitsämter. 5000 neue Stellen wollen Bund und Länder zusätzlich einrichten und die Ämter digital aufrüsten.
Doch bei einem Kernproblem sieht Wansleben noch Handlungsbedarf. Er plädiert für eine zumindest teilweise Entschuldung überschuldeter Kommunen. Anders könnten diese ihre strukturellen Probleme nicht lösen. Der Schuldendienst sowie die Restriktionen der Kommunalaufsicht ließen keine Spielräume für Investitionen. Dies wirke sich wiederum nachteilig auf die Entwicklung der Kommunen aus. Anders gesagt: Überschuldung setzt eine Abwärtsspirale in Gang. Der amtierende Finanzminister Olaf Scholz hat einen Entschuldungsplan zwar in Angriff genommen. Doch damit konnte er sich in der Regierungskoalition nicht durchsetzen. Die Vorbehalte dagegen gibt es schon lange. Kritiker sehen dadurch schlecht wirtschaftende Städte und Gemeinden belohnt.
Die Antworten des Staates auf die Pandemie bewertet der Forscher dagegen positiv. „Das Marktcredo ist vom Tisch gefegt worden“, sagt er. Die Hilfspakete seien eine gute Mischung aus Konjunkturförderung und Investitionen. „Jetzt zeigt sich ein Riesennachteil der USA“, folgert er. Der Bundesstaat weigere sich dort, den Einzelstaaten finanziell beizuspringen. Diese trügen die Kosten der Coronakrise, während ihnen die Einnahmen wegbrechen. Dagegen besteht das deutsche Modell in einem kooperativen Förderalismus, bei dem Bund, Länder und Kommunen untereinander und zwischen den Ebenen Gelder umverteilen, sich also gerade in Krisenzeiten solidarisch zeigen.
Auf den Punkt gebracht:
- Nachdem der Staat sich lange aus wirtschaftlichen Aktivitäten und der wirtschaftspolitischen Steuerung zurückgezogen hat, kehrt sich der Trend um.
- Die Fähigkeit der Notenbanken, konjunkturelle Krisen abzuwenden, steht in Zweifel; die Politik sollte stärker eingreifen.
- In der Daseinsvorsorge spielen kommunale Unternehmen eine wichtige Rolle.
- Nötig sind zudem mehr staatliche Investitionen in die Infrastruktur.