„Eine Erhöhung des Rentenalters vorzuschlagen, ist unpopulär“
Kaum ein Thema wird in der Politik mit so spitzen Fingern angefasst, wie die Rente. Kein Wunder: Jede Veränderung der Rente, die den größten Einzelposten im Bundeshaushalt einnimmt, könnte Wählerstimmer kosten. Um vor allem die junge Generation nicht weiter zu belasten, fordert Axel Börsch-Supan, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, ein Umdenken und befürwortet eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.
Herr Professor Börsch-Supan, was halten Sie von Menschen, die mit 55 oder 60 Jahren in Frührente gehen wollen?
Im Prinzip ist dagegen nichts zu sagen. Diese Menschen müssen nur genug Geld verdient haben, um sich das leisten zu können. Wer mit 50 Jahren in Rente geht, sollte im Schnitt 30 Jahre Lebensjahre finanzieren können. Wenn jemand viel angespart hat, kann sie oder er das ruhig tun. Ich bin allerdings strikt dagegen, wenn Frührenten auf Kosten anderer gehen, also vor allem der jungen Generation. Das ist unfair und den jungen Menschen nicht zuzumuten.
Manche sehnen sich nach der Rente, andere fürchten sie, weil sie nicht wissen, was sie dann machen sollen.
Menschen sind in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich. Es ist unbestritten, das mit dem Renteneintritt auch die Depressions- und Scheidungsquoten steigen. Viele finden es schwierig, diese Zeit mit neuem Sinn zu füllen – das betrifft Geschäftsführer und Direktorinnen genauso wie Handwerker und Kassiererinnen. Wir haben Umfragen gemacht, die uns immer wieder Folgendes zeigen: Personen vor dem Eintritt in die Rente sagen, sie wollen zwei oder drei Jahre früher aufhören. Wenn wir sie nach dem Renteneintritt befragen, erklären viele von ihnen, sie hätten gerne noch zwei oder drei Jahre länger gearbeitet. Man muss wohl die Rente erst erleben, um sie zu verstehen.
Viele haben auch Angst vor dem finanziellen Absturz im Alter. Wie sicher ist die Rente?
Ich sage, sie ist sicher. Und damit meine ich nicht, dass alles wie bisher so weitergeht. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Rente auch zukünftig einen vernünftigen Lebensstandard ermöglichen wird. Unsere Kinder werden eine großzügigere Kaufkraft haben als wir, weil die Produktivität unserer Wirtschaft schneller wächst als der demographische Wandel die Finanzierungsmöglichkeiten der Rente einschränkt. Es wird daher auch keine Rentenkürzungen geben, sondern Rentensteigerungen – diese werden allerdings nicht so üppig ausfallen können wie in den vergangenen Jahren.
Die Politik verspricht, dass das sogenannte Rentenniveau auch über das Jahr 2025 hinaus bei mindestens 48 Prozent bestehen bleiben soll. Wie glaubwürdig ist das?
Vielleicht sollten wir erst mal den irreführenden Begriff „Rentenniveau“ klären. Denn es handelt sich bei ihm um kein „Niveau“, sondern um den Prozentsatz der Rente einer Person, die 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, im Verhältnis zum Durchschnittslohn eines deutschen Arbeitnehmers. Wenn die Löhne steigen, steigen auch die Renten, aber nicht in dem Maße wie die Löhne. Daher steigen die Renten, aber das Rentenniveau sinkt. Wenn die Politik jetzt davon spricht, dass auch das Rentenniveau steigen soll, ist das unsolide – und auch nicht sehr klug. Denn man kann den Bürgern nicht versprechen, dass die Rente mit der gleichen Dynamik wie früher steigt, wenn es wegen des demographischen Wandels weniger Rentenbeitragszahler, aber mehr Rentenbezieher geben wird.
Wie finden Sie denn den Vorschlag der Politik, die Ansprüche, die bereits jetzt in der gesetzlichen Rente stecken, durch Kapitaldeckung zu bedienen?
Die laufenden Ansprüche kann man dadurch nicht finanzieren, weil sie vorher angespart werden müssen. Es dauert rund 40 Jahre, um 20 Jahre Rente zu bedienen. Das würde heute vor allem die junge und mittlere Generation belasten, die schon die Zahlungsverpflichtung des Umlageverfahrens gegenüber den älteren Menschen bedienen muss. Das wäre nicht richtig.
Was schlagen Sie vor?
Wir sollten mit der Kapitaldeckung warten, bis meine Generation, also die Babyboomer, die Rentenversicherung nicht mehr so belasten wie derzeit. Wir brauchen jetzt einen Mix aus vielen kleinen Schritten, der die Belastung auf viele Schultern verteilt. Das heißt: die Rentenerhöhung mäßiger ausfallen lassen, die Beiträge und Steuerzuschüsse mäßig erhöhen, das Rentenalter mäßig erhöhen, und die Betriebs- und Privatrenten stärken. Natürlich würde auch mehr Beschäftigung helfen. Allerdings sind die jüngeren Menschen in Deutschland schon alle gut beschäftigt. Auch der Frauenanteil ist mittlerweile bei uns höher als in Frankreich. Es ließen sich auch mehr Migranten in gut bezahlte Jobs bringen. Doch da gibt es das Problem der Qualifikation.
Klingt alles nicht nach einer nachhaltigen Lösung.
Richtig. Deswegen sollten wir uns endlich fragen: Wo ist die größte Reserve, die wir bisher nicht ausgeschöpft haben? Antwort: Das sind Menschen ab 62 Jahren. Wir haben leider die sehr unkluge „Rente mit 63 Jahren“ eingeführt. Dadurch geht uns heute ein großes Potenzial verloren. Nicht alle, aber die meisten Menschen in diesem Alter sind im Kopf noch sehr fit und haben viel Expertise, die sie an Jüngere weiterreichen könnten. Es würde ja schon reichen, wenn sie halbtags arbeiteten.
Die Menschen sollen also wieder später in Rente gehen?
So pauschal kann man das nicht sagen. Wir machen als Gesellschaft den Fehler, ein allgemeinverbindliches Rentenalter vorzuschreiben. Das halte ich für Unsinn. Wissen Sie, wann die Rente mit 65 Jahren eingeführt wurde? Vor über hundert Jahren. Heute leben wir viel länger als damals und sind länger gesund. Deswegen müssen Lebenszeit und Lebensarbeit in einem vernünftigen Verhältnis zueinanderstehen. Meine Empfehlung ist, das Renteneintrittsalter an unsere Lebenserwartung zu koppeln. Das ist keine Revolution, sondern eine Notwendigkeit.
Das Rad der „Rente mit 63 Jahren“ lässt sich wohl kaum zurückdrehen.
Das ist eine Frage an die Politik. Das muss man wollen. Doch vor diesem Schritt scheuen sich alle Parteien. Eine Erhöhung des Rentenalters vorzuschlagen, ist unpopulär. Das kostet Wählerstimmen. Ich finde es beschämend, wie kurzsichtig, mutlos und wenig staatsmännisch in der Politik gedacht wird. Es gilt das Gleiche für den Klima- wie für den demografischen Wandel: Beides wird Geld kosten. Kaum ein Politiker traut sich daher, wirklich etwas zu tun. Die Angst vor dem Wähler ist beschämend groß.
Haben Sie da noch Lust auf Ihre Rente?
Ich beziehe ja schon Rente. Die Max-Planck-Gesellschaft hat mir netterweise erlaubt, noch ein paar Jahre Direktor zu sein und dann meine Arbeit in einer Emeritus-Forschergruppe fortzusetzen. Das macht mir viel Freude. Es gibt noch viel an unserem Sozialsystem zu untersuchen. Mich interessiert, wie sich eine Volkswirtschaft, die immer älter wird, weiterentwickelt. Ob Rente, Pflege oder Soziales – vieles wird zukünftig davon abhängen, wie es uns gelingt, unsere Produktivität anzukurbeln.
Die Fragen stellte Martin Roos.