Maschinelles Lernen entschlüsselt Beben im All
Neuronales Netz analysiert Gravitationswellen in Echtzeit
Forschende haben ein neuronales Netz darauf trainiert, in nur wenigen Sekunden die Eigenschaften verschmelzender schwarzen Löcher anhand der abgestrahlten Gravitationswellen präzise abzuschätzen. Das Netzwerk bestimmt die Massen und Eigendrehimpulse der schwarzen Löcher, sowie wo am Himmel, in welchem Winkel und wie weit von der Erde entfernt die Verschmelzung stattgefunden hat.
Schwarze Löcher sind eines der größten Rätsel des Universums. Ein Beispiel: Ein schwarzes Loch von der Masse unserer Sonne hat nur einen Radius von drei Kilometern. Schwarze Löcher, die einander umkreisen, strahlen Gravitationswellen ab – Schwingungen von Raum und Zeit, die Albert Einstein 1916 vorhergesagt hat. Dadurch wird die Umlaufbahn immer enger und die schwarzen Löcher werden immer schneller, bis sie schließlich in einem letzten Ausbruch von Gravitationswellen miteinander verschmelzen. Diese Gravitationswellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum bewegen, werden mit Detektoren in den USA (LIGO) und Italien (Virgo) nachgewiesen. Forschende vergleichen die von den Observatorien gesammelten Daten mit theoretischen Vorhersagen, um so die Eigenschaften der Quelle abzuschätzen, etwa wie groß die schwarzen Löcher sind und wie schnell sie sich drehen. Derzeit dauert dieses Verfahren mindestens Stunden, oft sogar Monate.
Ein interdisziplinäres Forscherteam des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme (MPI-IS) in Tübingen und des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut/AEI) in Potsdam nutzt modernste Methoden des maschinellen Lernens, um diesen Prozess zu beschleunigen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwickelten einen Algorithmus, der ein tiefes neuronales Netz verwendet, einen komplexen Computercode, der aus einer Abfolge einfacherer Operationen aufgebaut ist und der Funktionsweise des menschlichen Gehirns nachempfunden wurde. Sekundenschnell schließt das System auf alle Eigenschaften der beiden miteinander verschmelzenden schwarzen Löcher. Die Forschungsergebnisse wurden heute in der bedeutendsten Fachzeitschrift für Physik, den Physical Review Letters, veröffentlicht.
„Unsere Methode kann in wenigen Sekunden sehr genaue Aussagen darüber treffen, wie groß und schwer die zwei schwarzen Löcher waren, die bei ihrer Verschmelzung die Gravitationswellen erzeugt haben. Wie schnell rotieren die schwarzen Löcher, wie weit sind sie von der Erde entfernt und aus welcher Richtung kommt die Gravitationswelle? All diese Informationen können wir aus den Beobachtungsdaten ableiten und darüber hinaus Aussagen über die Genauigkeit dieser Berechnung treffen“, sagt Maximilian Dax, Erstautor der Studie und Doktorand in der Abteilung für Empirische Inferenz am MPI-IS.
Das Forscherteam trainierte das neuronale Netz mit vielen Simulationen — vorausberechnete Gravitationswellen für hypothetische Doppelsysteme von schwarzen Löchern kombiniert mit dem Rauschen der Detektoren. Auf diese Weise lernt das Netzwerk die Zusammenhänge zwischen den gemessenen Gravitationswellendaten und den Parametern, die das zugrundeliegende System schwarzer Löcher charakterisieren. Es dauert zehn Tage, bis der Algorithmus namens DINGO (die Abkürzung steht für Deep INference for Gravitational-wave Observations) ausgelernt hat. Dann ist er einsatzbereit: In nur wenigen Sekunden leitet das Netzwerk aus den Daten neu beobachteter Gravitationswellen die Größe, die Eigendrehimpulse und alle anderen Parameter ab, welche die schwarzen Löcher beschreiben. Die hochgenaue Analyse entschlüsselt fast in Echtzeit die Kräuselungen der Raumzeit – das hat es in dieser Geschwindigkeit und Präzision noch nie gegeben.
„Je weiter wir mit immer empfindlicheren Detektoren ins Weltall blicken, desto mehr Gravitationswellen werden gemessen. Schnelle Methoden wie die unsere sind daher unerlässlich, um all diese Daten in angemessener Zeit zu analysieren“, sagt Stephen Green, Wissenschaftler in der Abteilung Astrophysikalische und Kosmologische Relativitätstheorie am AEI. „DINGO hat den Vorteil, dass es – einmal trainiert – neue Ereignisse sehr schnell analysieren kann. Wichtig ist dabei auch, dass es detaillierte Schätzungen der Ungenauigkeit von Parametern liefert, die in der Vergangenheit mit Methoden des maschinellen Lernens nur schwer zu ermitteln waren.“ Bisher verwenden die Forschenden der LIGO- und Virgo-Kollaborationen sehr rechenintensive Algorithmen zur Analyse der Daten. Sie benötigen für die Interpretation jeder Messung Millionen neuer Simulationen von Gravitationswellen. Das dauert mehrere Stunden bis Monate - DINGO jedoch ist weitaus schneller, da das trainierte Netzwerk keine weiteren Simulationen für die Analyse neuer Beobachtungsdaten benötigt; ein Verfahren, das als „amortisierte Inferenz“ bekannt ist.
Vielversprechend ist die Methode auch für komplexere Gravitationswellensignale von Kollisionen schwarzer Löcher, deren Analyse mit den bisher verfügbaren Algorithmen sehr lange dauert, sowie für zwei verschmelzende Neutronensterne. Während bei der Kollision von schwarzen Löchern Energie ausschließlich in Form von Gravitationswellen freigesetzt wird, senden verschmelzende Neutronensterne zusätzlich elektromagnetische Strahlung aus. Sie sind daher auch für herkömmliche Teleskope sichtbar, die möglichst schnell auf die entsprechende Himmelsregion ausgerichtet werden müssen, um das Ereignis beobachten zu können. Dazu muss man sehr rasch feststellen, woher die Gravitationswelle kommt, was durch die neue Methode des maschinellen Lernens erleichtert wird. In Zukunft könnten diese Informationen dafür genutzt werden, die Teleskope rechtzeitig auszurichten, um elektromagnetische Signale von Kollisionen von Neutronensternen oder eines Neutronensterns mit einem schwarzen Loch zu beobachten.
Alessandra Buonanno, Direktorin am AEI, und Bernhard Schölkopf, Direktor am MPI-IS, freuen sich auf die nächste Phase ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit. Buonanno erwartet, dass „diese Konzepte in Zukunft eine viel realistischere Behandlung des Detektorrauschens und der Gravitationssignale ermöglichen werden, als dies heute mit Standardtechniken möglich ist.“ Und Schölkopf fügt hinzu: „Solche simulationsbasierten Erkenntnisse unter Verwendung von maschinellem Lernen könnten wegweisend in vielen Bereichen der Wissenschaft sein, in denen wir ein komplexes Modell aus verrauschten Beobachtungen ableiten müssen.“