„Mehrheitsentscheidung bedeutet nicht, dass die Mehrheit machen kann, was sie möchte“

Die Europäische Union ist nicht nur ein Binnenmarkt, sie organisiert eine europäische demokratische Gesellschaft. Doch diese wird seit einiger Zeit von der polnischen und der ungarischen Regierung herausgefordert. Armin von Bogdandy, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, forscht über diese Entwicklungen und die Reaktionsmöglichkeiten der EU. Im Interview spricht er über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa und Ähnlichkeiten mit Lateinamerika.
 

Herr von Bogdandy, vor wenigen Tagen hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die polnische Justizreform von 2019, die von der konservativen PiS-Partei vorangetrieben worden war, gegen EU-Recht verstößt.  Warum ist dieses Urteil für die Europäische Union von so grundlegender Bedeutung?

Armin von Bogdandy: Mit dem Urteil, das mehrere Maßnahmen der polnischen Regierung gegen die eigene Justiz für unzulässig erklärt, stellt sich der Gerichtshof hinter die polnische Verfassungsstaatlichkeit. Der ehemalige polnische Verfassungsrichter Miroslaw Wyrzykowski hat bei einer Veranstaltung an unserem Institut eindrücklich formuliert, was das bedeutet: „Der Hüter der polnischen Verfassung sitzt heute in Luxemburg“. Der Gerichtshof hält weiter fest, dass demokratische Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und deren Schutz durch die Union elementar für die europäische Gesellschaft sind. Der Gerichtshof betont, dass der Wert der Rechtsstaatlichkeit ein integraler Bestandteil der Identität der EU ist.

Die Europäische Kommission befasst sich seit 2018 mit der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Wie ist es dazu gekommen? Und welche Rolle spielte dabei die Wissenschaft?

In Artikel 2 EUV, an zentraler Stelle im Vertrag über die Europäische Union, ist ja festgelegt, dass sich die Europäische Union auf die Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten gründet. Seit die Europäische Kommission verstanden hat, dass die Eingriffe der polnischen Regierung in die Justiz den demokratischen Charakter der EU beeinträchtigen, befasst sie sich mit den Problemen in Polen. Diese Einsicht ist durchaus auch rechtswissenschaftlichen Autoren zu verdanken: Sie haben die Tragweite der Eingriffe von Anfang an dargelegt und die anfängliche Untätigkeit der europäischen Organe kritisiert. Unser Institut beteiligt sich seit 2012  an den Debatten. Damals hatte Staatsminister Hoyer aus dem aus dem Auswärtigen Amt bei uns angefragt, wie man unionsrechtlich mit den Entwicklungen in Ungarn umgehen kann, und wir haben eine Antwort entwickelt.

Was ist nun zu erwarten? Wird die polnische Regierung zurückrudern?

Als Rechtswissenschaftler habe ich keine Kompetenz für Prognosen, was Akteure als nächstes tun werden. Das gilt insbesondere bei Akteuren wie der polnischen Regierung, bei denen die Vermutung prinzipiell rechtstreuen Verhaltens nicht mehr gilt. Man darf aber davon ausgehen, dass im Falle polnischen Widerstandes die europäischen Institutionen nachsetzen werden.

Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat am Pfingstmontag ein Gesetz unterzeichnet, das der Sejm zuvor mit knapper Mehrheit angenommen hatte. Das Gesetz sieht die sofortige Schaffung einer staatlichen Sonderkommission vor, die quasigerichtliche Vollmachten erhält. Die neue Verwaltungseinheit soll die „russische Einflussnahme“ auf Polen in den Jahren 2007 bis 2022 aufarbeiten und angebliche Unterstützer Russlands gleich selbst außergerichtlich bestrafen. Also neue Probleme für die europäische Rechtsstaatlichkeit?

Ich kenne das Gesetz nur aus der Presse. Die allgemeine Einschätzung, dass dieses Gesetz ein direkter Anschlag nicht nur auf die Rechtsstaatlichkeit, sondern zudem auf die Demokratie ist, scheint mir plausibel. Es geht wohl darum, den wichtigsten Konkurrenten für die nächsten Wahlen zu entfernen. Es ist bemerkenswert, dass genau das gerade in Guatemala stattgefunden hat. Die Parallelen zwischen Polen und Ungarn in Europa und Guatemala, Nicaragua und Venezuela in Lateinamerika sind offensichtlich, bedrückend – und Gegenstand vergleichender Forschung bei uns.

Noch gravierender als die Lage in Polen sind nach Einschätzung der Europäischen Kommission offenbar die Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips in Ungarn. Im Rahmen des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus wurden Ende 2022 Zahlungen von Fördermitteln in Milliardenhöhe ausgesetzt. Und die Regierung in Budapest scheint einzulenken: das Parlament hat gerade eine Justizreform beschlossen, die offenbar Maßnahmen zur politischen Kontrolle von Richtern zurücknimmt …

Der Verfall demokratische Rechtsstaatlichkeit ist in Ungarn wesentlich weiter fortgeschritten als in Polen. Es ist von europäischer Seite nur schwieriger, dagegen vorzugehen, weil die ungarische Regierung zumeist über eine verfassungsändernde Mehrheit verfügt, deshalb sind viele Maßnahmen des Demokratieabbaus schwerer zu greifen. In welchem Maße die nun erfolgte Revision einiger Maßnahmen Rechtsstaatlichkeit im Sinne demokratischer Gewaltenteilung wiederherstellt, kann ich noch nicht abschließend bewerten. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Regierung bereits 13 Jahre lang eine gezielte Personalpolitik bei der Ernennung und Beförderung von Richtern betrieben hat.

Worin liegen die Gründe für die Probleme in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, die wir gegenwärtig erleben?

Das ist eine Frage, die wissenschaftlich kompetent nur Sozialpsychologen und Politikwissenschaftler beantworten können. Aus meiner Lektüre der einschlägigen Forschung entnehme ich, dass verschiedene Gründe zusammenwirken: tatsächliche Unzulänglichkeiten der Gerichte in jenen Ländern, enttäuschte Erwartungen der Bevölkerung, die von den raschen gesellschaftlichen Transformationen verunsichert war und sich einen schnelleren Wohlstand erhofft hatte. Dazu kommt, dass die einschlägigen Politiker sehr geschickt agierten und im Rahmen der europäischen Parteienbündnisse lange aus anderen EU-Ländern protegiert wurden. Zusätzlich bekamen sie Unterstützung durch europäische Subventionen und deutsche Industrieansiedlungen, um nur einige Punkte zu nennen.

Ist die Gestaltung eines nationalen Justizsystems nicht Sache demokratischer Mehrheitsentscheidung? In Ungarn hat Orbans Regierung ja eine verfassungsändernde Mehrheit, sie konnte die Umgestaltung der Justiz also formal korrekt vorantreiben.

Natürlich ist die Organisation des Justizsystems eine Frage der Mehrheitsentscheidung. Aber das Prinzip der Mehrheitsentscheidung bedeutet in Europa nicht, dass die Mehrheit machen kann, was sie möchte. Insbesondere kann es nicht demokratisch sein, seine eigene Macht zu zementieren und die Chancen der Opposition zu beschneiden. Genau darum geht es aber in Polen und Ungarn, und da kommt es auch nicht darauf an, ob die Mehrheit eine verfassungsändernde ist.

Welche Bedeutung hat die Unabhängigkeit der Justiz für die Demokratie, in Europa und in anderen Teilen der Welt?

Genau zu diesem Thema habe ich vor zwei Wochen bei einem Treffen des Europäischen, des Interamerikanischen und des Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte referiert. Eine Frage war, ob diese Gerichtshöfe die Unabhängigkeit der nationalen Justiz schützen sollen. Die einfache Antwort lautet, dass Demokratie und Menschenrechte auf eine unabhängige Justiz angewiesen sind. Dies erklärt, warum die internationalen Gerichte sich in solche Konflikte einbringen, obwohl sie wissen, dass sie einen backlash seitens der betroffenen Regierungen zu erwarten haben und sogar ihre eigene Rolle gefährden können. Venezuela hat wegen solcher Entscheidungen die Interamerikanische Menschenrechtskonvention verlassen. Und auch ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts von Herbst 2021, das eine ganze Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs zur Durchsetzung europäischer Werte für unanwendbar erklärte, war ein partieller Exit aus dem überstaatlichen europäischen System des Grund- und Menschenrechtsschutzes. Entscheidungen internationaler Gerichte sind dennoch und gerade deshalb wichtig, weil sie solche Entwicklungen in eine internationale Öffentlichkeit bringen, den Verfall von Rechtsstaatlichkeit mit Autorität dokumentieren und der internen Opposition den Rücken stärken. Demokratischer Wandel bedarf in der Regel der Unterstützung von außen, das wird hiermit vorbereitet.

Wie kann man den Europäischen Rechtsstaatsmechanismus weiter stärken und ausbauen, ohne dabei das Kompetenzgefüge der EU zu gefährden?

Der europäische Rechtsstaatsmechanismus ist ein eher schwaches Instrument. Bedeutsam sind hingegen die neuen Möglichkeiten, Mitgliedstaaten, die demokratische Rechtsstaatlichkeit systematisch untergraben, von den europäischen Finanzmitteln auszuschließen. Dies zeigt sich aktuell, da die Kommission substantielle Mittel eingefroren hat, die für Polen und Ungarn bestimmt sind – und beide reagieren. Dass das Einfrieren unionsrechtskonform ist, hat der EuGH mit soliden Gründen festgestellt. Gleichwohl sollte man die Begründungen der Kommission für die Nichtauszahlung der Mittel sowie ihre Verhandlungen mit den betroffenen Mitgliedstaaten genau verfolgen. Es ist offensichtlich, dass solche Verhandlungen zwischen den für den Haushalt zuständigen Beamten der Kommission und Vertretern der ungarischen oder polnischen Regierung nicht das ideale Setting für Verfassungsentwicklung sind. Immerhin verspricht das zu erwartende Dickicht rechtlicher Regulierung für uns in den Rechtswissenschaften ein so reichhaltiges Forschungsfeld, wie es sich Alexander von Humboldt einst im Orinocobecken darbot.

Die Fragen stellte Alexandra Kemmerer.

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