Neutronensternverschmelzungen verstehen

Aufwändige numerische Simulation bringt Licht ins Dunkel kosmischer Extremsituationen

Einem Team des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam und der Universitäten in Kyoto und Toho ist es erstmals gelungen, in einer langen numerisch-relativistischen Simulation den gesamten Prozess des einander Umkreisens und Verschmelzens zweier Neutronensterne zu untersuchen. Bislang waren für solche Doppelsysteme nur Simulationen möglich, die etwa 0,1 Sekunden des Gesamtprozesses beschreiben. Die neue Modellierung, an der der japanische Hochleistungs-Computer Fugaku 200 Tage lang rechnete, bildet eine zehnmal so lange Zeitspanne ab und liefert neue Erkenntnisse über die Entstehung schwerer Elemente. Die Studie erschien jetzt in der Fachzeitschrift Physical Review Letters.

Als im August 2017 die Gravitationswellen zweier verschmelzender Neutronensterne gemessen wurden, war dies eine wissenschaftliche Sensation. Gleichzeitig begann damit die Multimessenger-Astronomie, die Messergebnisse der Gravitationswellen-Detektoren mit Beobachtungen von Teleskopen kombiniert, die Signale im elektromagnetischen Bereich auffangen. Allerdings ist bis heute nicht bekannt, was genau während und nach einer solchen Verschmelzung passiert. Um mehr über Neutronensterne zu erfahren, die bei einem Durchmesser von etwa 20 Kilometern typischerweise 40 Prozent mehr Masse als unsere Sonne besitzen, sind genaue theoretische Berechnungen nötig, die diese extremen Objekte modellieren. Die beiden Neutronensterne in der heute veröffentlichten Modellierung hatten 1,2 bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten Verschmelzung übereinstimmt.

Die Neutronensterne haben 1,2 bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten Verschmelzung (GW170817) übereinstimmt. Die Visualisierung zeigt den Elektronenanteil auf der linken Seite, die Dichte in der Mitte und die magnetische Feldstärke auf der rechten Seite.

Numerisch-relativistische Simulation der Verschmelzung zweier Neutronensterne

Die Neutronensterne haben 1,2 bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten Verschmelzung (GW170817) übereinstimmt. Die Visualisierung zeigt den Elektronenanteil auf der linken Seite, die Dichte in der Mitte und die magnetische Feldstärke auf der rechten Seite.
https://www.youtube.com/watch?v=I5pHQxYBSlA

Die Forschenden erwarten, auch während der kürzlich begonnenen vierten Messkampagne der Gravitationswellen-Detektoren verschmelzende Neutronensterne zu beobachten. Für die Interpretation solcher Signale sind verlässliche theoretische Vorhersagen wichtig, wie sie nun zum ersten Mal vorliegen. „Bislang mussten stets verschiedene Methoden kombiniert werden, um den kompletten Prozess des Aufeinanderzufallens, des Verschmelzens und die Phase nach der Verschmelzung zu modellieren“, erklärt Kenta Kiuchi, Gruppenleiter in der Abteilung Numerische und Relativistische Astrophysik am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik und Erstautor der Publikation. „Außerdem flossen in frühere Studien sehr viele Annahmen ein, die nicht immer physikalisch begründet waren. Unsere Untersuchung hingegen ist selbstkonsistent und geht von nur wenigen Annahmen aus. Es handelt sich um die erste vollständige Berechnung des gesamten Prozesses, die ein genaues Bild des Massenauswurfs während und kurz nach der Verschmelzung der beiden Neutronensterne liefert.“

Die Entstehung schwerer Elemente

Für die Berechnung wurden 72 Millionen CPU-Stunden auf dem japanischen Hochleistungs-Computer Fugaku aufgewendet, um eine entscheidende Sekunde des gesamten Prozesses zu simulieren: die letzten fünf Umkreisungen, die Verschmelzung selbst und die Phase danach. „Mit dieser langen Simulation haben wir viel über die Physik der Neutronensternkollisionen gelernt“, sagt Masaru Shibata, Direktor der Abteilung Numerische und Relativistische Astrophysik. „Es wird immer klarer, dass diejenigen Elemente, die schwerer als Eisen sind, tatsächlich in solchen extrem energiereichen Prozessen gebildet werden, wenn während und nach der Verschmelzung Materie aus dem System herausgeschleudert wird.“

Die Neutronensterne haben 1,2 bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten Verschmelzung (GW170817) übereinstimmt.<br />Die Visualisierung zeigt Profile für die Restmassendichte (oben links), die Magnetfeldstärke (oben zweites von links), den Magnetisierungsparameter (oben zweites von rechts), die Ungebundenheit nach dem Bernoulli-Kriterium (oben rechts), den Elektronenanteil (unten links), die Temperatur (unten zweites von links), die Entropie pro Baryon (unten zweites von rechts) und den Shakura-Sunyaev &alpha;M Parameter (unten rechts).

Eine Sekunde lange numerisch-relativistische Simulation der Verschmelzung eines binären Neutronensterns

Die Neutronensterne haben 1,2 bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten Verschmelzung (GW170817) übereinstimmt.
Die Visualisierung zeigt Profile für die Restmassendichte (oben links), die Magnetfeldstärke (oben zweites von links), den Magnetisierungsparameter (oben zweites von rechts), die Ungebundenheit nach dem Bernoulli-Kriterium (oben rechts), den Elektronenanteil (unten links), die Temperatur (unten zweites von links), die Entropie pro Baryon (unten zweites von rechts) und den Shakura-Sunyaev αM Parameter (unten rechts).
https://www.youtube.com/watch?v=ZWXsA6e2BsI

Die Forscher haben den Massenauswurf aus dem System genau untersucht und gefunden, dass ab etwa 10 Millisekunden nach der Verschmelzung Materie herausgeschleudert wird. Nach 40 Millisekunden erreicht dieser dynamische Massenauswurf seinen Höhepunkt, flaut dann ab und etwa 300 Millisekunden nach der Verschmelzung wird erneut Materie herausgeschleudert – diesmal aus dem Torus, der sich während der Verschmelzung gebildet hat. Während der dynamische Massenauswurf auf die Gezeitenkräfte und schockartige Erhitzung während der Verschmelzung zurückzuführen ist, konnten die Forschenden jetzt erstmals selbst-konsistent zeigen, dass das Herausschleudern von Materie nach der Verschmelzung durch Turbulenzen im Torus entsteht.

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