Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie
Was man zählt ist nicht unbedingt das, was zählt
Ein tausendstel Liter mit Hunderttausenden Bakterien
In jedem Milliliter Meerwasser leben hunderttausende Bakterien. Um festzustellen, wie schnell eine Population von Bakterien wächst, wird häufig gemessen, wie sich ihre Zellzahl über die Zeit verändert. Hierdurch kann aber nicht genau erfasst werden, wie schnell sich die Bakterien vermehren oder sterben. Diese Faktoren sind jedoch sehr wichtig, um ökologische Prozesse zu verstehen. Deswegen haben wir im Zuge einer Frühjahrsblüte in der Deutschen Bucht einen genaueren Blick darauf geworfen. Dabei gerieten einige Dogmen ins Wanken. Forschende um Jan Brüwer, Bernhard Fuchs und Rudolf Amann untersuchten das Wachstum von Bakterien während der Frühjahrsblüte vor Helgoland mit verschiedenen Methoden. Mit dem Mikroskop zählten und bestimmten sie nicht nur die vorhandenen Zellen, sondern auch die Häufigkeit von Zellen, die sich gerade teilten (Abb. 1). So konnten sie anschließend berechnen, wie schnell sich verschiedene Bakterienarten in ihrer natürlichen Umwelt vermehrten.
Jan Brüwer, der die Studie im Rahmen seiner Doktorarbeit durchführte, suchte mit modernsten Bildanalyseverfahren in Tausenden von hoch aufgelösten, mikroskopischen Aufnahmen nach sich teilenden Zellen. Dabei machte er sich zu Nutze, dass vor der endgültigen Zellteilung das verdoppelte Genom auf die zukünftigen Tochterzellen aufgeteilt werden muss. Typischerweise sammelt sich die DNA der Tochterzellen an den entgegengesetzten Zellpolen. Aufgrund dieser charakteristischen DNA-Verteilung sind Zellen, die kurz vor der Teilung stehen, gut zu erkennen. So konnten die Forschenden die Wachstumsgeschwindigkeiten von einzelnen Bakteriengruppen über größere Zeiträume bestimmen (Abb. 2).
SAR11-Bakterien: Schnelle Teiler
Überraschenderweise teilte sich die am häufigsten im Meer vorkommende Bakteriengruppe namens SAR11 fast zehnmal schneller als bisher angenommen [1]. Die gemessenen Wachstumsraten stimmten wiederum nicht immer mit der Anzahl der jeweiligen Bakterien im Meer überein. Die hohen Teilungsraten in Kombination mit niedrigen Abundanzen deuteten darauf hin, dass sie ein beliebtes Opfer von Jägern oder Viren geworden sein müssen. Auch der Zeitpunkt der Bakterienvermehrung war überraschend. SAR11-Bakterien teilten sich häufig schon vor dem Einsetzen der Algenblüte in der Nordsee. Algen produzieren sehr viele Nährstoffe durch Photosynthese, wovon zahlreiche Bakteriengruppen profitieren. Woher die für die SAR11-Gruppe erforderliche Energie für das überproportionale Wachstum schon vor der Algenblüte stammt, darüber kann momentan nur spekuliert werden. Nicht alle Bakteriengruppen verhielten sich so unerwartet wie SAR11. Bei anderen Gruppen entsprachen die erhobenen Ergebnisse eher den Erwartungen der Forschenden, bei ihnen stimmten Wachstumsgeschwindigkeiten und Zellzahlen weitgehend überein.
Bisher nahm man an, dass die SAR11-Bakterien, die sehr kleine Zellen haben, mit wenigen Nährstoffen auskommen, sich nicht besonders häufig teilen und wegen ihrer geringen Größe nur wenig gefressen werden. Andere, größere Bakterien, beispielsweise die Bacteroidetes, werden dagegen als beliebtes Futter angesehen, das sich schnell vermehrt und ebenso schnell wieder verschwindet, wenn ihnen Jäger und Viren auf die Spur kommen. Unsere neue Studie entwirft nun ein ganz anderes Bild.
Stoffkreisläufe neu bewerten
Im Lichte dieser Ergebnisse müssen wir unser Verständnis von Stoffkreisläufen, vor allem des Kohlenstoffkreislaufs im Meer, neu bewerten. Wenn die häufigste Bakteriengruppe im Ozean, die SAR11-Bakterien, aktiver ist und sich schneller teilt als bisher angenommen, dann könnte das bedeuten, dass sie viel mehr Nährstoffe konsumiert und eine beliebtere Nahrungsquelle für andere Organismen ist als bislang vermutet. Das gesamte Nahrungsnetz wäre davon betroffen, nämlich dergestalt, dass der Umsatz an Bakterien sich demnach während der Algenblüte schneller als bisher bekannt erhöht. Dies wiederum hat Auswirkungen auf zukünftige Modellrechnungen und das Verständnis des Ökosystems Meer insgesamt. Fazit: Mit einfachen Mitteln wie der Mikroskopie können auch heute noch im Zeitalter der großen Datensätze entscheidende Entdeckungen gemacht werden.