Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Neue Erkenntnisse über den Ursprung der indogermanischen Sprachen

New insights into the origin of the Indo-European languages

Autoren
Heggarty, Paul; Anderson, Cormac; King, Benedict; Haak, Wolfgang; Krause, Johannes; Gray, Russell D.
Abteilungen

Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig

Zusammenfassung
Ein internationales Team von Forschenden aus Linguistik und Genetik unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat in der Debatte um den Ursprung der indogermanischen Sprachen einen wichtigen Durchbruch erzielt und damit unser Verständnis zu deren Ursprüngen maßgeblich erweitert. Datierte Sprachstammbäume und alte DNA legen nahe, dass die Lösung des 200 Jahre alten Rätsels um die Ursprünge des Indogermanischen in einer Kombination aus der Ackerbau- und der Steppen-Hypothese liegt.
Summary
An international team of linguists and geneticists, led by researchers from the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology in Leipzig, has achieved a significant breakthrough in understanding the origin of the Indo-European language family. Dated language family trees and ancient DNA evidence combine to suggest that the answer to the 200-year-old enigma of Indo-European origins lies in a hybrid of the farming and Steppe hypotheses.

Fast die Hälfte der Weltbevölkerung spricht indogermanische Sprachen. Seit über 200 Jahren debattieren Forschende darüber, wo diese Sprachen einst ihren Ursprung hatten. Zwei wesentliche Theorien haben diese Debatte bisher dominiert: Die Steppen-Hypothese verortet den Ursprung vor etwa 6000 Jahren bei den Pferdehirtenvölkern in der pontisch-kaspischen Steppe, während sie der Anatolien- oder Ackerbau-Hypothese zufolge schon seit etwa 9000 Jahren zusammen mit dem Ackerbau in Anatolien verbreitet waren. Phylogenetische Analysen der indogermanischen Sprachen gelangten bisher zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen vor allem über das Alter dieser Sprachfamilie. Dies ist auf Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten in den bislang verwendeten Datensätzen sowie auf Einschränkungen bei der Analyse „antiker“ Sprachen zurückzuführen.

Zur Lösung dieser Problematiken haben wir ein internationales Team von mehr als 80 Sprachspezialist:innen zusammengestellt und einen neuen Datensatz erstellt, der einen ausgewählten Kernwortschatz in 161 indogermanischen Sprachen enthält, darunter auch den von 52 „alten“ bzw. historischen Sprachen. Durch diese umfassendere und ausgewogenere Auswahl von Sprachen in Verbindung mit strikten Protokollen für die Kodierung solch lexikalischer Daten konnten die Probleme von Datensätzen früherer Studien grundsätzlich behoben werden.

Das Indogermanische ist etwa 8100 Jahre alt

Nach Analyse dieser neuen Daten erstellten wir datierte Sprachstammbäume mithilfe computergestützter Methoden aus der Evolutionsbiologie. Diese Stammbäume zeigen genealogische Verbindungen zwischen Sprachen sowie Zeitpunkte ihrer Verzweigungen auf. Mit dieser neuartigen Bayes‘schen phylogenetischen Analyse untersuchten wir anschließend, ob alte geschriebene Sprachen wie das klassische Latein und das vedische Sanskrit die direkten Vorfahren der modernen gesprochenen (romanischen bzw. indischen) Sprachen sind. Dies war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur genauen Datierung des Ursprungs der Sprachfamilie.

Unseren Analysen zufolge ist die indogermanische Sprachfamilie etwa 8100 Jahre alt, und bereits vor etwa 7000 Jahren spalteten sich fünf Hauptzweige ab. Nur sehr wenige der alten Sprachen waren direkte Vorfahren der modernen Untergruppen. Stattdessen handelte es sich oft um geschriebene Varietäten, die von den Eliten bei religiösen Zeremonien verwendet, von den damaligen Sprachgemeinschaften aber nicht gesprochen wurden. Unsere Chronologie für das Indogermanische ist über eine Vielzahl von alternativen phylogenetischen Modellen und Sensitivitätsanalysen hinweg robust.

Diese Ergebnisse stimmen so jedoch weder mit der Steppen- noch mit der Ackerbau-Hypothese völlig überein: Unsere Altersschätzung für das Indogermanische war für die Steppen-Hypothese zu alt und für die Anatolien-Hypothese etwas zu jung. Jüngste DNA-Daten wiesen darauf hin, dass der anatolische Zweig des Indogermanischen nicht aus der Steppe, sondern von weiter südlich stammt, aus dem oder nahe des nördlichen Bogens des Fruchtbaren Halbmonds. Potenzielle Kandidaten für die Expansion(en) aus der Steppe ab etwa 5000 Jahren vor unserer Zeit sind für andere Zweige der indogermanischen Sprachfamilie in alter DNA nachweisbar, sie hatten jedoch nur begrenzt genetische Auswirkungen. Unsere Topologie des Sprachstammbaums und die Daten der Stammbaumaufspaltung deuteten darauf hin, dass die frühen Zweige des Indogermanischen sich ebenfalls direkt aus dem nördlichen Fruchtbaren Halbmond und nicht über die Steppe verbreitet haben könnten.

Neue Erkenntnisse aus Genetik und Linguistik

Wir schlagen daher nun eine neue, hybride Hypothese für den Ursprung der indogermanischen Sprachen vor, mit einer endgültigen Urheimat im nördlichen Fruchtbaren Halbmond und einer anschließenden Verzweigung nach Norden in die Steppe. Die Steppe bildete dann eine sekundäre Heimat für einige Zweige des Indogermanischen, die mit den späteren Jamnaja- und Schnurwaren-assoziierten Expansionen nach Europa kamen. Neben einer verfeinerten Zeitschätzung für das Alter des Indogermanischen sind die Baumtopologie und die Verzweigungsreihenfolge von entscheidender Bedeutung für die Übereinstimmung mit archäologischen Schlüsselereignissen und sich verändernden Abstammungsmustern, wie sie in den Genomdaten damals lebender Menschen zu finden sind. Dies ist ein großer Schritt weg von den sich gegenseitig ausschließenden früheren Szenarien und hin zu einem plausibleren Modell, das archäologische, anthropologische und genetische Erkenntnisse gleichermaßen berücksichtigt und integriert. Alte DNA und Sprachphylogenetik legen somit nahe, dass die Lösung des 200 Jahre alten indogermanischen Rätsels in einer Kombination aus der Ackerbau- und der Steppen-Hypothese liegt.

Literaturhinweise

Heggarty, P.; Anderson, C.; Scarborough, M.; King, B.; Bouckaert, R.; Jocz, L.; Kümmel, M. J.; Jügel, T.; Irslinger, B.; Pooth, R.; Liljegren, H.; Strand, R. F.; Haig, G.; Macák, M.; Kim, R. I.; Anonby, E.; Pronk, T.; Belyaev, O.; Dewey-Findell, T. K.; Boutilier, M.; Freiberg, C.; Tegethoff, R.; Serangeli, M.; Liosis, N.; Stroński, K.; Schulte, K.; Gupta, G. K.; Haak, W.; Krause, J.; Atkinson, Q. D.; Greenhill, S. J.; Kühnert, D. & Gray, R. D. 
Language trees with sampled ancestors support a hybrid model for the origin of Indo-European languages
Science 381(6656), eabg0818 (2023)

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