Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Transition 2.0: die Rückkehr zu demokratischer Verfassungsstaatlichkeit

Transition 2.0: reestablishing the democratic rule of law

Autoren
Armin von Bogdandy, Luke Dimitrios Spieker
Abteilungen

Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Zusammenfassung
Seit einigen Jahren ist in mehreren EU-Mitgliedstaaten ein Rückgang an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beobachten. Die jüngsten Wahlen in Polen haben jedoch gezeigt, dass solche illiberalen Entwicklungen aufgehalten werden können. Eine neue Regierung wird nun vor der Herausforderung stehen, die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederherzustellen. Dabei handelt es sich um eine gewaltige Aufgabe, denn die Veränderungen reichen tief: Es braucht eine Transition 2.0. Unser Projekt untersucht, wie europäisches Recht und Institutionen diesen Prozess unterstützen und einhegen können.
Summary
The past years have seen a remarkable decline in constitutional democracy in several EU Member States. The recent Polish elections, however, show that illiberal developments can be reversed. Still, any new government will face the challenge of how to reestablish constitutional democracy and repair the state’s membership within the European Union: this requires a veritable transition 2.0. Our project explores how European law and institutions may help facilitate this transition, but also impose constraints on such endeavours.

Keine Regierung währt ewig

Seit einigen Jahren ist in mehreren EU-Mitgliedstaaten ein Rückgang an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beobachten. Die polnischen Wahlen zeigen jedoch, dass solche Entwicklungen keine Einbahnstraße sind. Auch wenn sich eine Regierungspartei bemüht, ihre Macht zu festigen: Keine Regierung währt ewig. So hat sich eine Mehrheit der polnischen Bevölkerung gegen einen weiteren Abbau demokratischer Rechtsstaatlichkeit entschieden. Die neue Regierung steht nun vor der Herausforderung, den von der PiS betriebenen Umbau des Staates rückgängig zu machen. Dies betrifft unter anderem die Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft, die Beschneidung von Frauen- und LGBTIQ-Rechten und nicht zuletzt den Abbau richterlicher Unabhängigkeit.

Es braucht eine Transition 2.0

Dabei handelt es sich um eine gewaltige Aufgabe, denn die Veränderungen der letzten Jahre reichen tief. Ein von manchen geforderter, alles bereinigender „Federstrich des Gesetzgebers“ wird die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Polen kaum wiederherstellen können. Nach acht Jahren PiS bedarf es einer Transition 2.0, die an die Transitionsprozesse der 1990er Jahre anknüpft.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fand ein umfassender politischer, sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Wandel statt, der zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern und deren EU-Beitritt führte. Für die EU-Mitgliedschaft mussten diese Staaten zahlreiche Bedingungen wie die Kopenhagener Kriterien erfüllen: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Trotz dieser Anforderungen blieben die Transitionsprozesse der frühen 1990er Jahre von internationalem oder europäischem Recht relativ unbeeinflusst. Diese Länder verfügten daher über einen großen Entscheidungsspielraum, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen, ihren demokratischen Herausforderungen begegnen und ihre Verfassungen zukünftig gestalten wollten.

Europäische Einbettung

Anders als diese Prozesse wird sich eine Transition 2.0 innerhalb einer starken europäischen Einbettung vollziehen. Die jeweiligen Staaten sind Mitglieder der EU und des Europarates und damit Teil einer europäischen Gesellschaft, die durch die in Artikel 2 des EU-Vertrags (EUV) verankerten gemeinsamen Werte geprägt ist: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Geraten diese Werte in einem Mitgliedstaat unter Druck, ist die gesamte europäische Gesellschaft betroffen. Europäischem Recht und europäischen Institutionen kommt somit eine zentrale Rolle zu.

Die EU-Institutionen haben daher in den vergangenen Jahren versucht, den illiberalen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Viele nationale Maßnahmen wie der Umbau der polnischen Justiz verstießen gegen europäische Vorgaben, insbesondere gegen die Werte des Artikel 2 EUV. In diesem Gegenwind entwickelten sich die europäischen Mechanismen erheblich weiter. Insbesondere der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällten eine Reihe wegweisender Urteile, in denen sie eine Missachtung der gemeinsamen Werte feststellten.

Das Mandat der EU beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, gegen eine Missachtung der gemeinsamen Werte vorzugehen – sie hat auch eine Rolle, wenn es um deren Wiederherstellung geht. Zu dieser Dimension gibt es bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.

Beförderung und Begrenzung einer Transition 2.0

In Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Mittel- und Osteuropa, einschließlich des neuen polnischen Justizministers, untersucht unser Projekt erstmals, wie europäisches Recht und europäische Institutionen die Transition 2.0 in einem Mitgliedstaat befördern, aber auch begrenzen können. Hierbei werden unterschiedliche Aspekte thematisiert, die auf jede demokratische Transition in den Mitgliedstaaten Anwendung finden können. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Reform des polnischen Justizsystems. Bei der Umwälzung der polnischen Justiz hat die PiS-geführte Regierung zahlreiche, teils politisch loyale Richterinnen und Richter ernannt. Vor allem das Verfassungsgericht ist eine Marionette der Regierung. Diese Maßnahmen verstoßen sowohl gegen die polnische Verfassung als auch gegen europäische Werte. Unser Projekt zeigt mögliche Wege zur Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz auf.

Europäisches Recht kann jedoch nicht nur die Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat erleichtern, sondern setzt diesem Prozess auch Grenzen. Insbesondere die Verfahren, mit denen die neue Mehrheit gegen Gesetze, Ernennungen und Maßnahmen vorgeht, die gegen die Werte verstoßen, müssen selbst mit diesen Werten in Einklang stehen. Dies erfordert die Wahrung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Rechtmäßigkeit, die integraler Bestandteil der von Artikel 2 EUV garantierten Rechtsstaatlichkeit sind.

Vor diesem Hintergrund erschiene es hoch problematisch, wenn die neue Mehrheit pauschal alle Richterinnen und Richter absetzen würde, die unter der alten Mehrheit ernannt oder befördert wurden. Gleiches gilt für eine Infragestellung aller von ihnen gefällten Urteile. Ein solcher Radikalschlag ist kaum mit Rechtssicherheit und Rechtmäßigkeit vereinbar. Zudem hat die Wiederherstellung richterlicher Unabhängigkeit in gesetzlicher Form zu erfolgen. Solche Gesetze erfordern die Unterschrift des PiS-freundlichen Präsidenten. Ein bloßer Parlamentsbeschluss ohne die Zustimmung des Präsidenten kann ein formelles Gesetzgebungsverfahren nicht ersetzen. Die Wiederherstellung demokratischer Rechtsstaatlichkeit rechtfertigt Verletzungen der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht. Ein elementarer rechtsstaatlicher Grundsatz lautet: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Das EU-Recht verlangt somit, dass demokratische Transitionen nicht auf rechtswidrige Weise erfolgen. An dieser Stelle setzt unser Projekt an: es entwickelt zahlreiche innovative Vorschläge, wie das Unionsrecht eine legale Transition unterstützen kann.

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