Biologische Materialforschung

Die Bauprinzipien und Synthesewege der Natur inspirieren Forscher, neue Materialien mit verbesserter Funktionalität zu entwickeln. Mittels Multiskalen-Modellen lassen sich die hierarchischen Strukturen biologischer Materialien und Prozesse auf verschiedenen Längen- und Zeitskalen gut beschreiben. Vom Verständnis der Wechselwirkungen zwischen biologischen Zellen und künstlichen Materialien wird gerade die regenerative Medizin profitieren.

Zerbrechlich wie Glas – für Glück mag das gelten, nicht aber für ­einen besonderen, in der Tiefsee lebenden Glasschwamm. Dabei besteht sein filigranes Stützskelett tatsächlich weit gehend aus Silikat, also dem Grundbestandteil von Glas. Wieso das zarte Gebilde so bruchfest ist, interessiert nicht nur Zoologen. Die Geheimnisse »biologischer Materialien« zu lüften, um die Natur besser zu verstehen und von ihr zu lernen, gehört zu den Aufgaben des neuen Forschungsfelds der biologischen Materialforschung.

Biologische Gewebe, Zellen und Zellkomponenten als Materialien anzusehen, ihre mechanischen, optischen und magnetischen Eigenschaften zu ergründen, ist zwar eine ungewohnte Perspektive auf die belebte Natur. Tatsächlich aber spielen ­diese Eigenschaften für die jeweilige biologische Funktion oft eine wichtige Rolle – ob es sich nun um Haut, Knochen oder ­Eiweißmoleküle handelt. Darüber hinaus könnten die Bauprinzipien von Kakteen, Bäumen, Muschelschalen oder Schmetterlingsflügeln dazu inspirieren, neuartige Werkstoffe mit nützlichen Eigenschaften zu entwickeln, bestehende zu optimieren und synthetische Materialien umweltschonender herzustellen1,2.

Nicht einfach kopierbar

Wenn die Natur so viel zu bieten hat, warum nicht einfach das natürliche Vorbild kopieren? Dies ist leichter gesagt als getan, wie etwa das Perlmutt zeigt, das den Schalen von Muscheln und anderen Weich­tieren Festigkeit verleiht. Es besteht zu 95 Prozent aus plättchenförmigen Kalziumkarbonatkristallen und widersteht Angriffen von Fressfeinden doch 3000-mal besser, als es das reine Mineral könnte. Denn die Kristalle sind in eine organische Matrix eingebettet – und die nimmt die Energie mechanischer Gewalt auf und verteilt sie, bevor sich ein Mikroriss von Kristall zu Kristall fortsetzen könnte.

Anders als industriell gefertigte Keramik entsteht ein derartiger Verbundwerkstoff nicht in einem einfachen, sondern in einem mehrstufigen Prozess. Indem Forscher einzelne Schritte davon imitierten, also Biomimetik betrieben, gelang es ihnen, eine perlmuttartige Substanz herzustellen, die vom biologischen Original kaum zu unterscheiden ist. Der wissenschaftliche Aufwand lohnt: Perlmutt könnte als Vorbild für neue Werkstoffe dienen3,4.

Nahezu "unzerstörbares" Skelett

Auf einer innigen Verbindung der orga­nischen mit der anorganischen Welt beruht auch die Stabilität des erwähnten Glasschwamms Euplectella5. Hinzu kommt eine stark hierarchisch aufgebaute Struktur. Schon mit bloßem Auge erweist sich das Stützskelett des Tiers als gläserner Fachwerkbau, der zudem von äußeren ­Ringen verstärkt ist. Auf mikroskopischer Ebene zeigt sich, dass die einzelnen Streben aus Bündeln gläserner Fasern bestehen, die eine Art Glaszement miteinander verschweißt. Geht man noch tiefer ins ­Detail, so stellt jede Faser wiederum einen raffinierten Verbundwerkstoff dar: Konzentrische Lagen aus Silikat-Nanoparti-keln wech­seln sich ab mit hauchdünnen Schichten eines organischen Klebers, der eventuelle Mikrorisse in einer Glasschicht abfängt. Diese komplexe Struktur macht aus sprödem Glas ein nahezu »unkaputtbares« Schwammskelett.

Wie eine hierarchisch aufgebaute Struk­tur6 die Eigenschaften eines gegebenen Materials hervorbringt, untersuchen Wissenschaftler neuerdings auch mit so genannten Multiskalen-Modellen7, die große Zeit- und Längenskalen abdecken (Bild 1). Mit derartigen Ansätzen und Computer-simula­tionen ergründen sie auch Phänomene komplexer Selbstorganisation, die etwa Proteinen in Zellmembranen ihre hohe mechanische Flexibilität verleiht8.

Von der Biologie zur technischen Anwendung: Hierarchische Strukturen werden vermutlich bald Hochleistungselek­troden für Lithiumionenbatterien noch effektiver machen. Damit der Ladungsaustausch auf einer größeren Oberfläche stattfinden kann, verfügt diese meist über eine poröse Struktur. Bislang sind aber die Poren entweder regelmäßig oder zufällig verteilt. Beides setzt der Elektronenbewegung Grenzen. Unsere Lunge hingegen vermag innerhalb von Sekunden einige Liter Luft auszutauschen – dank einer hierarchischen Porenstruktur. Entsprechende synthetische Werkstoffe haben sich bereits als viel versprechende Kandidaten für Batterieelektroden erwiesen, denn bei vergleichbarer Gesamtoberfläche ist ihr elektrischer Widerstand minimal9.

Biomaterialien mit erstaunlichen Eigenschaften

In der Medizin stellt sich oft die Frage, ­ wie Zellen und Gewebe reagieren, wenn sie mit künstlichen Materialien – zum Beispiel Implantaten – in Kontakt kommen. Heute wissen wir, dass selbst geringfügige ­Veränderungen der physikalischen oder chemischen Eigenschaften einer solchen Oberfläche das Wachstum von Geweben stark beeinflussen können. Verantwortlich dafür sind unter anderem Proteine aus der Klasse der Integrine, die in der Zellmem­bran verankert sind. Ihre Aufgabe: zum einen nach außen die Haftung zu vermitteln (Bild 2), zum anderen Signale über Struktur, mechanische Eigenschaften und Deformation der Implantatoberfläche in biochemische Signale zu übersetzen und ins Zellinnere zu senden.

Mit Hilfe biologischer Materialforschung sollte es möglich sein, etwa für die regenerative Medizin Gerüststrukturen so auszustatten, dass sich die richtigen ­Zellen an den richtigen Stellen ansiedeln und dann in der erwünschten Weise entwickeln.

Und bei dieser Gelegenheit entdecken Biomaterialforscher vielleicht auch neue Möglichkeiten, die Haftung lebender Objekte an künstlichen Oberflächen zu erschweren. Die Rede ist vom Biofouling, das insbesondere im Schiffsverkehr ein großes Problem darstellt, da Muscheln und andere Bewohner der Rümpfe der Metallkorrosion Vorschub leisten.

Nicht allein natürliche Materialien sind eine Quelle der Inspiration, sondern auch natürliche Prozesse. Auf welche Art und Weise beispielsweise lebende Zellen den Stofftransport in ihrem Innern organisieren oder auf mechanische Reize reagieren10, könnte Ingenieuren als Vorbild dienen – um bald etwa mikromechanische Geräte zur Energieumwandlung, Aktuatoren oder Lab-on-a-Chip-Anwendungen zu realisieren.

Nicht zu vergessen sind all jene Prozesse, die sich im Grenzbereich von Biologie und Geologie vollziehen. Hier arbeiten Forscher etwa an der Synthese von Kohle und kohlenstoffbasierten Substanzen aus Biomasse. Dabei erreichten sie dank hoher Temperaturen und dem Einsatz technischer Katalysatoren bereits höhere Erträge als das Vorbild aus der Natur. Biogeologische Prozesse liefern auch die Ansätze, das bei der Verbrennung von fossilen Kraftstoffen entstehende Kohlendioxid einzufangen und zu speichern. Es gelang, ein spezielles, schwammartiges Material aus Kohlenstoff zu entwickeln, das Potenzial als Ionentauscher in Brennstoffzellen bietet – und sich zudem zur Verbesserung von Ackerböden eignet. Denn auch das lässt sich von der Natur lernen: Sie versteht es, erfolgreiche Strategien vielfältig einzusetzen und so auf elegante Weise »das Füllhorn auszuschütten«.

Marine Muscheln verfügen über Heftfäden, mit denen sie auf Steinen in der Brandung Halt finden. Forscher des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung haben zu-sammen mit Kollegen von der University of California in Santa Barbara gezeigt, dass die ungleiche Verteilung von Vernetzungen in der Epidermis dieser Fäden deren Dehnbarkeit und Abriebsbeständigkeit bestimmt. Nach diesem Vorbild könnten neuartige polymere Beschich-tungen entwickelt werden (Harrington, M.A. et al., Science 328, 216, 2010).

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