Die große Freiheit
Laut Umfragen fühlen sich viele Menschen hierzulande nicht frei, ihre Meinung zu äußern. Zu Recht?
Bauernproteste, Demokratie-Demos und Pro-Palästina-Aktionen: Deutschland erlebt eine Demonstrationswelle wie lange nicht mehr. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen Umfragen zufolge hierzulande nicht frei, ihre Meinung zu äußern. Zu Unrecht, wie Rechtsexperte Ralf Poscher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht feststellt.
Text: Nina Schick
Groß und grün steht er da, der John-Deere-Traktor eines Bauern vor einer Autobahnauffahrt zur A 10 bei Berlin. „Stirbt der Bauer, stirbt das Land“, steht auf einer Holzpalette, die vor den Kühler montiert ist. Er darf hier stehen, hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, und muss auch nicht nach einer halben Stunde den Weg freigeben, wie es die Polizei zur Auflage machen wollte. Platz lassen muss er allerdings für Einsatzfahrzeuge. Neben und hinter ihm weitere Trecker mit Protestparolen, grün, gigantisch und mächtig. Über Tage und Wochen blockieren sie und andere Deutschlands Autobahnen, Innenstädte oder Landstraßen immer wieder aufs Neue.
75 Jahre Freiheit
„Die Meinungsfreiheit (Artikel 5 des Grundgesetzes) und die Versammlungsfreiheit (Artikel 8) zählen zu den Grundpfeilern der Demokratie“, sagt Ralf Poscher, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. „Artikel 5 soll die freie geistige Auseinandersetzung gewährleisten – nicht nur die geistige Auseinandersetzung im politischen Raum, aber natürlich auch gerade die“, erklärt der Professor für Öffentliches Recht. Dass beide Artikel vor 75 Jahren Eingang ins Grundgesetz gefunden haben, ist heute nach wie vor eine Errungenschaft.
Trotz der verfassungsrechtlichen Garantie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden jedoch beide zunehmend als eingeschränkt wahrgenommen. Für die Meinungsfreiheit belegt das eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor von Dezember 2023. Danach gaben 44 Prozent der Befragten an, es sei besser, sich in der Öffentlichkeit nur vorsichtig zu äußern, vor allem wenn es um konservative oder rechtspopulistische Ansichten geht. Nur 40 Prozent bekundeten das Gefühl, ihre politische Meinung frei sagen zu können. Die Werte haben sich innerhalb weniger Jahre stark verschoben. Noch 2017 war eine deutliche Mehrheit von 63 Prozent überzeugt, man könne frei reden. 1990 waren es sogar noch 78 Prozent der Befragten.
„Man muss zwei Dinge auseinanderhalten: einmal, was der Staat gegen Meinungsäußerungen und Versammlungen unternimmt, und auf der anderen Seite, welche gesellschaftlichen Sanktionen man unter Umständen zu gewärtigen hat, wenn man bestimmte Ansichten vertritt“, sagt Rechtsexperte Poscher. Als Grundrecht ist die Meinungsfreiheit zunächst einmal ein Abwehrrecht gegen den Staat und schützt vor Eingriffen durch den Staat. Für seine Meinung wird hierzulande niemand verhaftet.
Dass gerade populistische Parteien nicht müde werden, dennoch eine Meinungs-Unfreiheit festzustellen, beobachtet der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn von der Universität Gießen: „Meinungsfreiheit ist ein grundgesetzliches Abwehrrecht, sodass fast sämtliche ‚Debatten‘, die die extreme Rechte zu diesem Thema anzettelt, rein gar nichts mit Fragen der Meinungsfreiheit zu tun haben. Sie ist ein rhetorisches Ticket, um die Demokratie zu delegitimieren und zu destabilisieren.“ Wäre die Meinungsfreiheit in Deutschland ernsthaft eingeschränkt, könnte sich niemand darüber beschweren, ohne in Gefahr staatlicher Verfolgung zu geraten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Entscheidungen immer wieder klargemacht, welch hohen Rang es dabei der Meinungsfreiheit einräumt. Dies wirkt sich auch auf die einfachen Gerichte und Strafverfolgungsbehörden aus, wie beispielsweise 2018 bei der Entscheidung, eine diffamierende Äußerung des damaligen AfD-Fraktionschefs Alexander Gauland gegen die Integrationsbeauftragte als von der Meinungsfreiheit gedeckt zu sehen.
Auch im politischen Sektor reicht die Meinungsfreiheit weit. „Solange es um den Versuch geht, mit Argumenten, Positionen, Meinungen andere lediglich zu überzeugen, sind wir frei in der Auseinandersetzung“, erklärt Poscher. Dabei können auch Dinge vertreten werden, die durchaus nicht verfassungskonform sind. Solange es nur um die persönliche Meinung geht, darf sich jemand sogar für die Wiedereinführung der Monarchie einsetzen.“
Der breite Rahmen dieses Grundrechts erklärt sich aus der Geschichte. In das Grundgesetz sind die Erfahrungen der Weimarer Republik eingeflossen, die nicht durch einen Umsturz, sondern verfassungskonform abgeschafft wurde. Zwar kannte die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 118 die Meinungsfreiheit. Diese war aber nicht – wie die Grundrechte heute – mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattet, sondern konnte durch Notverordnungen, wie 1933 nach dem Brand des Reichstags geschehen, „bis auf weiteres“ und damit dauerhaft außer Kraft gesetzt werden. Dies sollte mit dem Grundgesetz nicht möglich sein: Die Demokratie sollte Freiheit bieten, aber im Gerüst wehrhaft sein. Sie sollte, wie es der Sozialdemokrat Carlo Schmid in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat im September 1948 formulierte, den „Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“. Für die Meinungsfreiheit bedeutet dies: Die Leine ist lang, solange es um einzelne Auffassungen geht. Das Vertrauen, dass das Gerüst der Demokratie stabil ist und die einzelne Meinung sich im Diskurs abschleifen wird, ist groß. Eingegriffen wird dann, wenn diese Verfassungserwartung enttäuscht wird. „Die Idee, die man den Vorschriften im Grundgesetz über Vereinsverbote, Parteiverbote, auch über die Aberkennung von Grundrechten entnehmen kann, ist: Die Demokratie kann sich gegen verfassungsfeindliche Auffassungen wehren, wenn diese sich verfestigen, besonders institutionell in Vereinigungen und Parteien“, erklärt Rechtsexperte Ralf Poscher.
Einzelne Versammlungen sind noch keine solche Verfestigung einer verfassungsfeindlichen Auffassung. Um auf das Beispiel der Monarchie zurückzukommen: Auch für die Wiedereinführung der Monarchie dürfte man friedlich demonstrieren. Das Bundesverfassungsgericht räumt der Versammlungsfreiheit einen ebenso hohen Stellenwert ein wie der Meinungsfreiheit. Nicht einmal anmelden muss man die Versammlung laut Grundgesetz. Dass dies in der Praxis – außer bei Spontandemonstrationen – doch zu geschehen hat, soll dem Schutz der Versammlung und dem reibungslosen Ablauf dienen. Ralf Poscher sagt: „Das Versammlungsrecht ist Versammlungsermöglichungsrecht.“
Dabei bedeutet Anmeldepflicht nicht gleich Genehmigungspflicht. Reagiert die Behörde beispielsweise nicht auf eine Anmeldung, darf die Versammlung trotzdem stattfinden. Wo die Versammlung anzumelden ist, unterscheidet sich je nach Bundesland. Das kann die Polizei sein oder kommunale Behörden. Wenn die Versammlungsbehörde eine Gefahr im Zusammenhang mit der Demonstration sieht, muss sie versuchen, diese durch Auflagen einzudämmen – ein geänderter Routenverlauf, ein Verbot für das Auftreten bestimmter Personen oder zeitliche Beschränkungen wie zuletzt bei den Bauernprotesten. „Ein Versammlungsbescheid kann gut ein Dutzend Auflagen haben“, erläutert Poscher. „Das Verbot einer Versammlung ist immer die Ultima Ratio.“
„Versammlungsverbote sind immer das letzte Mittel.“
Ralf Poscher
Der Rechtsstaat macht es sich nicht leicht mit dem Versammlungsverbot. Spricht die Versammlungsbehörde ein Verbot aus, steht der Rechtsweg offen, und es wird auch schnell entschieden. Die Veranstalter können sich an das Verwaltungsgericht wenden, von dort geht es gegebenenfalls zum Oberverwaltungsgericht oder Verwaltungsgerichtshof, je nach Bundesland. So hielten etwa viele pauschale Verbote propalästinensischer Versammlungen nach der Terrorattacke der Hamas auf Israel vom 7. Oktober in erster und zweiter Instanz nicht stand. In Frankfurt etwa lagen zwischen Verbot und Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshof gerade mal zwei Tage.
Gerichte als Wächter
Woher kommt der Impuls der Exekutive, Demonstrationen zu verbieten? „Die Politik ist immer wieder in Versuchung, die Freiheiten, die die Grundrechte gewähren, einzuschränken“, beobachtet Poscher, Co-Autor des Handbuchs des Polizeirechts. „Die Grundrechte sind auch dafür da, solche Überreaktionen abzuwehren.“ Laut Poscher, der sich mit der Geschichte und den dogmatischen Strukturen des öffentlichen Sicherheitsrechts befasst, kommt es gerade in Zeiten multipler Krisen entscheidend auf die Gerichte an: „Sie sind es, die nachträglich abwägen, die korrigieren, das Verhältnis von Bürger und Staat wieder ins Lot bringen.“
Vielfach werden Entscheidungen zu den jüngsten Protesten erst im Nachhinein fallen. Gerade hat die Coronakrise gezeigt, wie sich der Rechtsstaat in einer Krisensituation mit gravierenden Grundrechtseingriffen bewähren muss – sowohl während der akuten Lage als auch nachträglich. Wenn Richter, wie geschehen, im Jahr 2023 entscheiden, dass das generelle Verbot von Versammlungen in der ersten Coronaphase im Frühjahr 2020 unverhältnismäßig war, lässt sich die Demo zwar nicht mehr nachholen – aber das Urteil klärt die Rechtsposition der Betroffenen und kann die Grundlage für eine bessere Entscheidung in einem zukünftigen Fall bilden.
Grenzenlos ist die Freiheit nicht. Das Grundgesetz selbst bezeichnet diese Grenzen als Schranken und benennt sie in Artikel 5 Absatz 2: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Rechtlich relevant werden öffentliche Äußerungen dann, wenn sie schwere Straftaten gutheißen – oder zu Hass oder Gewalt aufstacheln oder unter den Tatbestand der Volksverhetzung fallen. Das schließt auch das Verwenden verbotener Symbole und Parolen mit ein. Dabei stand zuletzt der Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ – Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein – im Fokus. Der gemeinte Fluss ist der Jordan und das Meer das Mittelmeer – dazwischen liegt der Staat Israel. Daher wird die Parole von vielen so verstanden, dass sie Israels Existenzrecht leugnet. Innenministerin Nancy Faeser erließ Anfang November 2023 ein Verbot der Terrororganisation Hamas. In dieser Verbotsverfügung verbot sie die Parole – zunächst fast unbemerkt – als Kennzeichen der Terrororganisation gleich mit.
Folge: Was verboten ist, darf nicht gezeigt werden. Entsprechende Plakate darf die Polizei konfiszieren. Im Falle vermehrter Straftaten können sogar Versammlungen aufgelöst werden. Wer Schilder mit „Tötet XXX“ hochhält, wie in Wiesbaden im Rahmen der Bauernproteste, macht sich strafbar (§ 111 StGB, öffentliche Aufforderung zu Straftaten). Galgen, wie vielfach gesehen, bewegen sich im rechtlichen Graubereich. „Kontext ist immer alles. Aber wenn das signalisieren soll: ‚Wir kommen, um euch zu hängen‘, geht es nicht“, sagt Jurist Poscher. Auch Misthaufen auf öffentlichen Straßen können ein Fall für den Staatsanwalt sein. Ausdrücklich verboten sind Waffen auf Versammlungen, das besagt der Wortlaut des Grundgesetzes. Das Versammlungsgesetz verbietet zudem das Tragen von Uniformen. „Versammlungen dürfen andere nicht so einschüchtern, dass die ihre Meinung nicht mehr frei äußern oder bilden können. Daher gibt es die Uniformverbote“, so Poscher. Das gelte letztlich auch für Traktoren; sie dürften nicht als Mittel zur Einschüchterung genutzt werden.
Wie die Gerichte die Blockaden von Autobahnausfahrten, Landstraßen oder Plätzen durch Tausende Traktoren im Januar nachträglich beurteilen, wird sich zeigen. Entscheidend ist, welche Auflagen Protestierende erfüllen mussten. So berichtet Legal Tribune Online, dass Landwirte und Landwirtinnen in Sachsen Auffahrten nur zeitweise blockieren durften, während Bauern in Mecklenburg-Vorpommern nur an den Auffahrten zu Autobahnen stehen durften und nicht direkt darauf. Unbegrenzte Blockaden ließen hingegen die Richter des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zu. Das Argument: Autobahnen können umfahren werden. Die Richter räumten der Meinungskundgebung höhere Bedeutung ein.
Wie erklärt sich dann die Strafverfolgung und Verurteilung der „Klimakleber“, die vielerorts ebenfalls den Verkehr lahmlegten? Juristen sahen darin vielfach Einzelaktionen, die – unangemeldet – keinen Ansprechpartner für die Polizei boten, um Sicherheitskonzepte im Vorfeld abzusprechen. In Bayern wurden Klimaaktivisten sogar präventiv in Gewahrsam genommen – ein Vorgehen, das Poscher in einem gemeinsamen Blogbeitrag mit der Doktorandin Maja Werner sowohl von der Rechtsgrundlage als auch von deren Anwendung her als rechtlich bedenklich einordnete. „Damit wird auch Politik gemacht“, kommentiert Poscher.
Anders verhält es sich dagegen bei den Bauern, die über ihren Verband konzertierte Protestfahrten im Vorfeld mit den Sicherheitsbehörden abgesprochen und ihr Arbeitsfahrzeug für den Weg zur Kundgebung genutzt haben – und übrigens auch nutzen dürfen. „Wird eine Straße oder ein Platz als Versammlungsort zugelassen, dann gilt die Straßenverkehrsordnung insoweit nicht“, sagt Ralf Poscher. Auch Fußgänger und Radler sind dann auf Autobahnen erlaubt.
Wie eindrucksvoll Demonstrationen sein können, das zeigten nicht nur die Traktoren, die tagelang das Stadtbild prägten, sondern auch die Millionen Menschen, die für Demokratie und Freiheit einstanden – und dies nicht nur im Westen, sondern auch im Osten des Landes. Starke Symbole zum 75. Jubiläum einer Demokratie, die sich ihrer Freiheit stets bewusst sein sollte. „Die Versammlung lebt von Körperlichkeit. Bei allem, was die sozialen Medien heute bieten können – nichts wirkt so, wie wenn Menschen mit ihrem Körper für ihre Meinung einstehen“, erklärt Rechtsexperte Ralf Poscher.
Auf den Punkt gebracht
Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind wesentliche Bestandteile der Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht räumt ihnen einen überragenden Stellenwert ein.
Die Grenzen dieser Freiheiten müssen immer wieder ausgelotet werden. Verbote und ihre Aufhebungen, umstrittene Urteile und nachträgliche Feststellung von Rechtswidrigkeit sind kein Zeichen von Freiheitseinschränkung oder Willkür, sondern Belege für einen funktionierenden Rechtsstaat.
Schräge, unbequeme und extreme Meinungen sind geschützt, selbst wenn sie der Mehrheit nicht gefallen. Die Strafbarkeit bildet jedoch die Grenze.