Modell der Gefühle
Forschende untersuchen Universum der Gefühle
Gefühle oder Emotionen sind in den Neurowissenschaften bisher nur wenig systematisch dargestellt worden. Die bekanntesten Theorien dazu, warum Gefühle unser Gehirn wesentlich beeinflussen bzw. wie sie entstehen, wurden Ende der 1970er Jahre vorgelegt. Das Human Affectome Projekt hat nun ein umfassendes und integriertes Modell für Emotionen und Gefühle vorgestellt, das als gemeinsames Konzept für die Affektforschung dienen soll. Zusammen mit über 170 Forschenden aus mehr als 20 Ländern berichten Matthias Schroeter und sein Team vom vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig unter anderem darüber, welche Hirnregionen an sozialen Gefühlen beteiligt sind.
Wie jeder aus seinem Alltag weiß, sind wir keine rationalen Automaten. Selbst wenn wir alle Vor- und Nachteile einer Entscheidung abgewogen haben, können wir manchmal keine Entscheidung fällen. Dies trifft besonders auf komplexe Entscheidungen im Leben zu. Hier helfen uns Gefühle als Indikatoren dafür, was eine richtige Entscheidung sein kann. Um das wissenschaftliche Verständnis darüber zu verbessern, wie unsere Gefühle, Emotionen und Stimmungen mit menschlichem Verhalten zusammenhängen und es beeinflussen – in der Fachwelt als „affektive Neurowissenschaft“ bekannt – hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe von 173 Forschende aus 23 Ländern ein systematisches Konzept entwickelt, das die enorme Vielfalt affektiver Phänomene umfasst.
Um diese Herausforderung zu lösen, wurde 2016 das Human Affectome Project von Neuroqualia – einer in Kanada ansässigen gemeinnützigen Organisation – ins Leben gerufen. Mittels eines computerlinguistischen Ansatzes wurden zuerst Daten aus mehr als 4,5 Millionen Büchern durchsucht, um mehr als 3600 Wörter in der englischen Sprache zu identifizieren, die Empfindungen, Emotionen und Stimmungen beschreiben. Anschließend überprüften zwölf Forscherteams aus neurowissenschaftlicher Sicht einen Großteil dessen, was derzeit über Gefühle, Emotionen und Stimmungen bekannt ist. Sie checkten gleichzeitig die sprachlichen Begriffe, die üblicherweise zur Beschreibung dieser Erfahrungen verwendet werden und entwickelten ein Modell, das diese Erfahrungen in einen einzigen einheitlichen Rahmen einbettet.
Gehirnregionen für Gefühle
Die Arbeitsgruppe von Matthias Schroeter beteiligte sich maßgeblich an drei Teilprojekten, zu denen die Forschenden systematische Metaanalysen erstellt haben, welche anhand von Big Data die Hirnregionen identifizierten, die mit verschiedenen Gefühlen verbunden sind. Das erste Projekt befasste sich mit den sogenannten antizipatorischen Gefühlen (anticipatory feelings), die auf zukünftige Ereignisse ausgerichtet sind, wie z.B. Optimismus, Hoffnung, Pessimismus und Sorge. Das zweite Projekt untersuchte selbst-referentielle Gefühle, d.h., jene Gefühle, die auf uns selbst bezogen sind, die affektiven Grundlagen unseres „Selbst“ (consciousness of self). Das dritte Projekt widmete sich schließlich den Grundlagen von sozialen Gefühlen, die Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunikation mit anderen Menschen und Lebewesen sind.
„Bei diesem internationalen Projekt handelt es sich um den ersten Versuch, ein umfassendes Konzept der affektiven Neurowissenschaften zu entwickeln“, sagt Matthias Schroeter. Doch das Projekt trage nicht nur zur Grundlagenforschung bei, so der Leiter der Forschungsgruppe „Kognitive Neuropsychiatrie“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. „Neben der genauen Charakterisierung von Gefühlen, Emotionen und Stimmungen und deren Hirnregionen, haben die Ergebnisse weitreichende Konsequenzen. Sie tragen zum Verständnis dessen bei, was uns als Menschen ausmacht.“ so Schroeter. „Diese Ergebnisse legen auch die Grundlage dafür, dass wir Krankheiten wie Schizophrenie, Angststörungen, Depression oder Demenz besser verstehen und behandeln können.“ Hierbei wendet Matthias Schroeter als Neuropsychiater diese Konzepte bereits bei seiner Arbeit in der Klinik für Kognitive Neurologie des Universitätsklinikums Leipzig an. „Viele Krankheiten des Gehirns sind durch Veränderungen in diesem Bereich gekennzeichnet – mit entscheidenden Konsequenzen für Diagnostik und Therapie.“