Ein Ort voller Leben

Christina Bienhold vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen war auf dem Forschungseisbrecher Polarstern für zwei Monate in der zentralen Arktis unterwegs. Als Co-Fahrtleiterin der ArcWatch-1-Expedition erreichte sie im Sommer 2023 den Nordpol.

90° 00' N. Leichter Nebel. Um uns herum ein Mosaik aus Schollen und offenem Wasser, so wie mittlerweile überall in der sommerlichen Arktis. Doch ein Blick auf die Positionsanzeige unseres Schiffs beweist: Wir befinden uns am Nordpol! Die Polarstern, die Anfang 1982 vom Stapel lief, erreicht den nördlichsten Punkt des Globus bereits zum siebten Mal. Für mich und die meisten anderen an Bord ist es eine Premiere. Forschende und Besatzung stehen auf der Brücke, klatschen. Das Schiffshorn tutet. Es gibt Sekt. Unsere Fahrtleiterin Antje Boetius und unser Kapitän Stefan Schwarze halten eine Rede.

Die Polargebiete und die Tiefsee haben mich schon als Kind fasziniert. Mein Vater ist Biologe und war in der Bremer Politik tätig. Er arbeitete viel mit den meeresbiologischen Forschungsinstituten zusammen. Oft habe ich in seinem Büro Jahresberichte der Institute durchgeblättert und davon geträumt, einmal Meeresforscherin zu werden. Noch während meiner Schulzeit sammelte ich als Praktikantin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) erste Erfahrungen.

Heute bin ich tatsächlich Wissenschaftlerin und erforsche die Bakteriengemeinschaften des Tiefseebodens. Indem sie zur Energiegewinnung verschiedene Elemente wie etwa Kohlenstoff umsetzen, spielen die Mikroorganismen der Tiefsee eine wichtige Rolle in den globalen Stoffkreisläufen. Bisher wissen wir jedoch wenig darüber, welche Arten in der arktischen Tiefe vorkommen, wie sich die Gemeinschaften durch den Klimawandel verändern und wie sich das wiederum auf die Stoffumsätze auswirkt. Daher brauchen wir dringend Bestandsaufnahmen in zeitlichen Abständen, um die Veränderungen zu erfassen. Wir sammeln dafür Sedimentproben vom Meeresgrund. Anhand von Erbgutanalysen lassen sich später im Labor die Mikroorganismen in der Probe identifizieren.

Die Polarstern ist das größte Schiff der deutschen Forschungsflotte. Bereits im Jahr 2012 war ich auf einer Fahrt in die zentrale Arktis dabei, um Sedimentproben zu sammeln. Vergangenen Sommer hatte ich dann die Möglichkeit, als Co-Fahrtleiterin die Arc-Watch-Expedition zum Nordpol zu begleiten. Insgesamt waren an der Fahrt 54 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und 43 Besatzungsmitglieder aus 15 Ländern beteiligt.

Um die Zeit optimal zu nutzen, arbeiteten wir in Schichten – Tag und Nacht. Ein Vorteil dabei war die andauernde Helligkeit im arktischen Sommer. Technisch waren wir auf der Polarstern bestens ausgestattet: Zum Sammeln von Sedimentproben hatten wir einen Mehrfachgreifer dabei. Ein moderner Kameraschlitten ermöglichte es, in großer Tiefe zu filmen. Damit sind auf unserer Expedition die allerersten Aufnahmen vom Meeresgrund direkt am Nordpol geglückt. Schwämme, Seegurken, Fische und Kopffüßer – die arktische Tiefsee ist ein Ort voller Leben! Besonders häufig sind die Igelwürmer, die kleinste Nahrungspartikel vom Sediment absammeln und dabei charakteristische sternförmige Spuren hinterlassen. Insgesamt war die Expedition ein voller Erfolg – trotz erheblicher Probleme mit der Schiffstechnik: Das Bugstrahlruder war defekt, und damit fehlte uns ein wichtiges Manövrierelement, um das Schiff zu positionieren. Wenn wir unterwegs Station machen wollten, mussten wir daher improvisieren und die Polarstern mithilfe eines Eisankers an einer Scholle vertäuen.

Trotz der Schwierigkeiten konnten wir große Teile unseres eng getakteten Forschungsprogramms realisieren. Viel Freizeit blieb uns dabei nicht, doch immerhin konnten wir sie vielfältig nutzen: An Bord gibt es ein Schwimmbad und eine Sauna, einen Fitnessraum und die Schiffsbar „Zillertal“. Und sogar eine Band hatte sich zusammengefunden, die „ArcWatchers“. Die Stimmung war hervorragend!

Seit den 1980er-Jahren hat die Arktis pro Jahrzehnt 12 Prozent ihres sommerlichen Meereises verloren – eine Fläche fast so groß wie Indien. Diese Veränderungen haben Auswirkungen bis in die Tiefsee, über die wir noch so wenig wissen. Das möchte ich mit meiner Forschung ändern. Meine ganze Familie unterstützt mich dabei: Während ich zwei Monate auf See war, haben sich mein Mann und die Großeltern um die Kinder gekümmert. Die sind jetzt fünf und acht Jahre alt. Ich wünsche mir, dass ich etwas von meiner Faszination für die Meere an sie weitergeben kann.

 

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