Hunger ist Kopfsache
Appetit verspüren, einen Pudding holen, ihn genießen und sich noch einen nehmen: Eine Vielzahl elektrischer und chemischer Signale sorgen dafür, dass der Körper und das Gehirn in Fragen der Ernährung gemeinsame Sache machen. Welche Folgen diese „Absprachen“ haben, untersuchen Marc Tittgemeyer und sein Team am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung in Köln.
Text: Nora Lessing
Auf das rechte Maß kommt es an. Diese Philosophie liegt nicht nur fernöstlichen Weisheiten zugrunde, sondern auch dem Bestreben unseres Körpers, seinen Stoffwechsel in der Balance zu halten. Im Optimalfall werden Verhalten und Stoffwechsel präzise angepasst, sodass Blutzucker, Sauerstoffsättigung und andere Werte nicht übermäßig schwanken. Wie das funktioniert und welche Rolle genau das Gehirn dabei spielt, ist bislang jedoch nur wenig untersucht. Die Arbeitsgruppe von Marc Tittgemeyer am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung möchte dies ändern. Dafür bietet der Neurowissenschaftler und Stoffwechselexperte Testpersonen unterschiedliche Nahrungsmittel an, lässt Patienten vor dem Essen diffizile Verhaltensaufgaben absolvieren und misst Blutwerte und die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn.
Tittgemeyer betrachtet ein Foto auf dem Bildschirm in seinem Büro. Es wurde 1976 am Strand von Brighton aufgenommen. Hunderte Menschen in Bikinis und Badehosen lassen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. „Dieses Foto hat mich sehr beeindruckt, denn es fällt einem sofort auf: Die Menschen sind alle dünn. Fünfzig Jahre später würden die Menschen auf dem Bild anders aussehen.“ Heute sind sechsmal mehr Menschen fettleibig als in den 1970er-Jahren. In den OECD-Ländern sind inzwischen sogar rund die Hälfte der Erwachsenen und jedes sechste Kind übergewichtig, Tendenz steigend. Die Folgen sind alles andere als harmlos: Sie reichen von Kurzatmigkeit und Gelenkbeschwerden bis zu Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Was läuft da schief?
Stoffwechsel im Gleichgewicht
Ausgeglichenheit ist für den Körper das oberste Gebot. Unterschiedliche Signale verraten ihm, ob der Energie- und der Wasserhaushalt noch im Gleichgewicht sind. Wenn ja, melden Sensoren dies dem Gehirn. Falls nicht, reagiert der Körper mit Hunger oder Durst. Ein Beispiel: Druckempfindliche Zellen im Magen signalisieren, wenn dieser voll ist. Das Gehirn erzeugt daraufhin ein Sättigungsgefühl, das uns davon abhält, zu viel zu essen. Andere Signale dienen dagegen dazu, Reserven zu bilden. Sie können den um Ausgleich bemühten Kräften ein Schnippchen schlagen, denn sie treiben uns dazu, mehr Kalorien aufzunehmen, als gerade benötigt werden.
Anpassung an Mangel
Wer die übergewichtige Gegenwart verstehen will, muss sich mit der Vergangenheit befassen. Genauer gesagt: mit der Evolutionsgeschichte des menschlichen Stoffwechsels. Im Wesentlichen funktionieren unsere Gehirne und Körper nämlich nicht anders als die unserer Vorfahren. Und die badeten nicht etwa in Zucker oder bedienten sich an Schokoriegelbäumen, sondern mussten in Zeiten des Mangels nicht selten darben. Auf diese Lebensbedingungen hat sich unser Stoffwechsel im Lauf der Entwicklung eingestellt. „Die Evolution hat Gehirn und Körper gelehrt, dass es nicht jederzeit etwas zu essen gibt. Wenn dann mal Nahrung im Überfluss vorhanden ist, sollte man sich den Bauch voll schlagen, um für magere Zeiten gewappnet zu sein“, erklärt Tittgemeyer. Sättigungssignale können dann beispielsweise durch die Aktivierung unseres Belohnungssystems überschrieben werden, auch wenn der Magen bereits voll ist. Dabei spielt der Neurotransmitter Dopamin eine wichtige Rolle. Ein weiteres Signalsystem schätzt den Energiegehalt einer Mahlzeit und stimmt den Körper darauf ein, noch ehe der erste Happen im Mund landet. Daran beteiligt sind unter anderem die sogenannten Hungerneuronen – Nervenzellen, die im Hypothalamus des Gehirns sitzen. „Wenn wir satt sind, feuern diese Zellen nur ganz langsam vor sich hin. Bei Hunger aber sind sie extrem aktiv“, erklärt Marc Tittgemeyer.
Von Mäusen ist bekannt, dass die Hungerneuronen sich sofort beruhigen, wenn die Tiere an einem Stück Schokolade knabbern. Die Nervenzellen verstummen jedoch auch, wenn die Tiere die Schokolade nur riechen, aber nicht fressen können. Kommt der Snack dann nicht im Mäusemagen an, fahren die Neuronen ihre Aktivität nach einer Weile wieder hoch. „Das zeigt: Der Körper – und das gilt für Mäuse wie für Menschen – erwartet von Nahrungsmitteln einen bestimmten Kaloriengehalt und bereitet sich entsprechend darauf vor.“
Welche Rolle spielen diese im Lauf der Evolution entstandenen Stoffwechselsignale bei der weltweit beobachteten Zunahme des Körpergewichts? „Dazu gab es viele Vermutungen: vom Wegfall körperlicher Arbeit bis hin zur These, dass wir heute mehr essen würden als früher“, sagt Marc Tittgemeyer. „Inzwischen wissen wir: Der wichtigste Grund für die drastische Zunahme von Übergewicht besteht darin, dass wir heute anders essen als früher.“ Fertigprodukte zum Beispiel tricksen die Hungersignale des Körpers gleich auf mehrere Arten aus. Zum einen vereinen sie häufig viele Kalorien auf wenig Masse: So enthalten 100 Gramm Fertigpizza etwa fünfmal mehr Kalorien als 100 Gramm Apfel. Ein Stoffwechselsignal, das uns die Portionsgröße entsprechend reduzieren lässt, besitzen wir aber nicht. Und auch die Drucksensoren in unserem Verdauungstrakt können uns hier nicht helfen, denn sie können ja nicht zwischen Äpfeln und Pizza unterscheiden. Hinzu kommt, dass die Kombination aus Proteinen, Zucker und Fetten in Fertigprodukten mehrere Signalwege gleichzeitig anspricht, die alle das Belohnungssystem auf unterschiedlichen Wegen aktivieren. Die Belohnungsreize potenzieren sich dadurch und werden entsprechend stark empfunden.
Süßstoffe können hungrig machen
Auch Süßstoffe können ein Problem sein. Eigentlich sind sie dazu da, durch den Ersatz von Zucker Kalorien zu sparen. Doch unser inneres Kalorienvorhersageprogramm macht uns hier einen Strich durch die Rechnung: „Wenn der Körper an Kaffee mit Zucker gewöhnt ist, erwartet er eine gewisse Kalorienmenge. Also bereitet er sich darauf vor und erhöht zum Beispiel den Insulinspiegel“, erklärt Tittgemeyer. „Wenn dann wider Erwarten gar kein Zucker kommt, reagiert der Körper mit Hunger. So kann es passieren, dass Süßstoffe unseren Kalorienkonsum in die Höhe treiben, obwohl sie eigentlich das Gegenteil erreichen sollten.“
Ein weiteres Beispiel dafür, wie moderne Lebensmittel unseren Stoffwechsel aus der Balance bringen können, ist die rauschhafte Wirkung des Nährstoffduos Zucker und Fett. Marc Tittgemeyer und sein Team haben herausgefunden, warum wir Lebensmitteln wie Eis, Butternudeln und Sahnetorte kaum widerstehen können. Die Forschenden präsentierten Testpersonen Bilder von Nahrungsmitteln, die alle denselben Kaloriengehalt besaßen, aber unterschiedliche Makronährstoffe enthielten. Einige der Nahrungsmittel waren besonders reich an Zucker, andere an Fetten und wieder andere an einer Kombination aus beidem. Entsprechend ihren Vorlieben sollten die Testpersonen den Lebensmitteln einen Geldwert verleihen. Den höchsten Wert gaben sie den Nahrungsmitteln, die viel Zucker und Fett enthielten.
Der Grund: Wir können den Belohnungsreizen nicht widerstehen, die unser Gehirn ausschüttet, wenn wir Zucker oder Fett essen. Die jeweiligen Signalwege verlaufen auf unterschiedlichen Bahnen vom Verdauungstrakt bis ins Gehirn. Die Kölner Forschenden konnten zeigen, dass beide Wege am Ort der Belohnungsverarbeitung ankommen: im Mittelhirn. Und dort entfalten sie durch die Ausschüttung von Dopamin eine unerhörte Wirkung. „Zucker- oder fetthaltige Nahrungsmittel bewirken im Mittelhirn die Ausschüttung von Dopamin. Wenn ein Lebensmittel beides zugleich enthält, potenziert sich dieser Effekt“, so Tittgemeyer. „Man nennt das auch superadditiv.“ Nudeln oder Sahnesauce allein machen unser Gehirn also glücklich, doch Nudeln in Sahnesauce versetzen es regelrecht in Euphorie. Warum das so ist, bleibt jedoch rätselhaft. In der Natur gibt es nämlich nur sehr wenige Nahrungsmittel, die Zucker und Fett zugleich in großen Mengen enthalten – zum Beispiel Muttermilch. Sie ist unser erstes Nahrungsmittel und besitzt gleichzeitig eine hohe soziale Bedeutung für uns. Vielleicht sind wir deshalb für diese Nährstoffkombination so empfänglich. Beweisen lässt sich diese Theorie aber nicht ohne Weiteres.
Mithilfe eines Positronen-Emmissions-Tomografen können die Forschenden Veränderungen von Stoffwechselprozessen messen und beobachten, welche Belohnungsreaktionen Nahrungsmittel im Gehirn hervorrufen, beispielsweise in Form fett- und zuckerreicher Milchshakes. Ein solcher Drink verleiht schon beim ersten Schluck einen Dopaminkick. Sobald der Magen etwa fünfzehn Minuten später beginnt, den Shake zu verdauen, wird der Botenstoff ein zweites Mal ausgeschüttet. „Das Signal aus dem Magen läuft dabei über Nervenzellnetzwerke im Gehirn, die Motivation und Lernverhalten steuern. Sie verknüpfen den Milchshake mit Belohnung und schaffen so die Voraussetzung dafür, dass wir beim nächsten Mal wieder zu solch einem Shake greifen“, erklärt Tittgemeyer. Was wir essen, beeinflusst also unsere Vorlieben und umgekehrt – ein Teufelskreis. Dies zeigt auch ein weiteres Experiment der Kölner Forschenden. In der Studie erhielten Probanden in ihrer Ernährung jeden Tag eine halbe Tasse fett- und zuckerreichen Pudding. Nach acht Wochen war klar: Die Probanden legten weder an Gewicht zu, noch reagierten sie anders als zuvor auf körpereigene Botenstoffe. Der Pudding verstärkte allerdings die Vorlieben der Testpersonen für fetthaltige Speisen. Zudem lernten sie anders als die Vergleichsgruppe. Daraus schließen die Forschenden, dass der wiederholte Genuss energie-, fett- und zuckerreicher Nahrungsmittel zu einer Neuverdrahtung der Nervenzellnetzwerke im Gehirn führen kann – und dies ohne Veränderung des Körpergewichts oder des Stoffwechsels.
Lernen mit dem Hirnstamm
Führt fettreicher Pudding generell zu geistigem Abbau? „Sicher nicht“, erklärt Tittgemeyer, „aber offenbar ändert er die Art und Weise, wie Menschen lernen.“ Dazu muss man wissen, dass das Umlernen von Nahrungsmittelpräferenzen einen der ältesten Teile unseres Gehirns benötigt, den Hirnstamm. Veränderungen in diesem Areal beeinflussen unser gesamtes Empfinden und Verhalten.
Lassen sich einmal erlernte Essgewohnheiten wieder ändern? Marc Tittgemeyer zuckt die Achseln: „Das ist die Frage! In Experimenten mit Mäusen hat sich aber gezeigt, dass Essgewohnheiten nicht in Stein gemeißelt sind. Demzufolge klappt die Umstellung auf eine fettarme Ernährung, wenn die Tiere über einen längeren Zeitraum eine Niedrigfettdiät durchhalten.“ Wie lange ein Mensch eine solche Diät machen müsste, muss künftige Forschung zeigen.
Ob Fertiggerichte mit vielen Kalorien, unsere Schwäche für Zucker mit Fett oder gewohnheitsbedingte Leidenschaften: Ein Kalorienüberschuss kann viele Ursachen haben, und unser Gehirn belohnt uns dafür mit Glücksgefühlen. Die Folgen können schwerwiegend sein, denn ungesundes Essen und Übergewicht können krank machen. Typ-2-Diabetes ist so ein Fall: Bei dieser Erkrankung ist der Körper zunehmend unempfindlich gegenüber Insulin. Das Hormon hält vor allem die Zuckerkonzentration im Blut stabil. Die Unempfindlichkeit gegenüber Insulin führt dann dazu, dass die Körperzellen den Zucker nicht mehr ausreichend aus dem Blut aufnehmen. Außerdem wirkt Insulin auch auf das Belohnungszentrum des Gehirns, indem es die Dopaminausschüttung hemmt. „Es werden folglich immer mehr Fett und Zucker für dieselbe Belohnungswirkung benötigt“, erklärt Marc Tittgemeyer.
Typ-2-Diabetiker müssen daher teilweise mehr Kalorien zu sich nehmen als Gesunde, um sich gut zu fühlen – und nehmen aus diesem Grund noch mehr zu. Das Übergewicht führt dabei auch zur Bildung von Entzündungsstoffen im Körper. Deren Wirkung: Sie hemmen Antrieb und Motivation. Wer einmal in solch einem Teufelskreis gefangen ist, kommt nur schwer wieder heraus.
Medikamente allein reichen nicht
Sind moderne Medikamente vielleicht ein Ausweg? Besonders Wirkstoffe aus der Gruppe der sogenannten GLP-1-Rezeptorantagonisten machen seit kurzer Zeit Furore als Mittel gegen Übergewicht. Diese Medikamente regulieren Blutzucker und Insulin und verringern den Appetit. Weil sich der Magen langsamer entleert, fühlt man sich schneller satt. Marc Tittgemeyer und sein Forschungsteam haben außerdem gezeigt, dass ein solcher Wirkstoff auch auf das Belohnungssystem im Gehirn wirkt. „Ich glaube allerdings nicht, dass man Übergewicht mit Medikamenten allein in den Griff bekommen kann. Ohne Verhaltensänderungen und Anpassung der Ernährungsgewohnheiten wird es nicht gehen“, so Tittgemeyer.
Die Forschung von Marc Tittgemeyer und seinem Team zeigt, dass unser Stoffwechsel nicht nur zu Übergewicht und den damit verbundenen Erkrankungen führen kann. Er ist auch an vielen weiteren Krankheitsbildern beteiligt. Das schließt auch Demenzen ein, eventuell sogar die Entstehung von Parkinson.
„Je mehr ich darüber lerne, desto besser verstehe ich, dass Übergewicht überhaupt nichts mit Willensschwäche oder fehlender Disziplin zu tun hat“, folgert Tittgemeyer. „Wenn der Stoffwechsel entgleist, ist es außerordentlich schwer, sich dagegen zu wehren. Es ist unser Körper, der uns das Essen diktiert.“ Wer wider besseres Wissen zum Schokopudding statt zum Salat greift, kann sich also bei seinem nach Dopamin süchtigen Mittelhirn bedanken.
Auf den Punkt gebracht
Ein Grund für die weltweite Zunahme von Übergewicht ist die Veränderung unserer Lebensmittel. Fett und Zucker machen Nahrung nicht nur besonders kalorienreich, sie verstärken sich auch gegenseitig in ihrem Belohnungseffekt auf unser Gehirn.
Fett- und zuckerhaltige Lebensmittel setzen im Gehirn besonders viel Dopamin frei. Dies beeinflusst Lernverhalten und fördert die Vorliebe für solche Speisen.
Bei Mäusen lassen sich Essgewohnheiten und -vorlieben auch wieder ändern. Ob dies beim Menschen ebenso der Fall ist, ist noch unklar.