In der Weihnachtszeit haben Rentiere viel Muße
Nach ihrer Wanderung in die Überwinterungsgebiete bewegen sich die Tiere möglichst wenig und sparen so Energie
Rentiere wandern im Herbst aus ihren nördlich gelegenen Weidegebieten in Richtung Süden. Während des Winters bewegen sie sich dann deutlich weniger als im Sommer. Da sie unter der Schneedecke nur karge Flechten, Moose und Pilze finden, müssen sie in der kalten Jahreszeit besonders sparsam mit ihrer Energie umgehen. Vor allem bei geschlossener Schneedecke vermeiden sie kraftraubende Unternehmungen. Dies zeigen Studien, die im „Arctic Animal Movement Archive“ auf der Movebank-Plattform am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz gesammelt werden. 2020 hatten Forschende aus Deutschland und den USA das Archiv ins Leben gerufen, um Studien zu Tierwanderungen in der Arktis leichter auffindbar und zugänglich zu machen.
Rentiere kommen rund um die Arktis auf dem amerikanischen und eurasischen Kontinent in mehreren Unterarten vor. In Amerika werden die zu den Hirschen zählenden Tiere als Karibus bezeichnet. Rentiere pendeln meist im Verlauf des Jahres zwischen ihren weiter nördlich gelegenen Sommer- und den südlichen Winterweiden. Auf diesen Wanderungen können sie riesige Herden aus mehreren hunderttausend Individuen bilden. Zwischen manchen Sommer- und Wintergebieten liegen bis zu 5.000 Kilometer. Die Wanderungen der Rentiere gehören damit zu den längsten aller Säugetiere.
Das Wissen über die Zugrouten geben erfahrene Alttiere an die nächste Generation weiter. Rentiere ziehen häufig im „Gänsemarsch“. Auf dem Weg orientieren sie sich offenbar an der Wanderrichtung von Artgenossen in der Umgebung. Einer Studie aus dem Arctic Animal Movement Archive zufolge verlassen sich Karibus auf dem Weg von Victoria Island im Norden Kanadas aufs Festland die Richtungsentscheidungen dabei auf bestimmte benachbarte Artgenossen stärker als auf andere.
Ökologische Auswirkungen
Die Bewegung einer so großen Anzahl von Tieren ist nicht nur ein eindrucksvolles Schauspiel, sie hat auch enorme Auswirkungen auf die Ökosysteme in der Arktis. Forschende verfolgen das Verhalten von Rentieren und anderen Arten in der Arktis mithilfe von GPS-Sendern, Drohnen und Flugzeugen. Die so gewonnenen Daten können dann im Arctic Animal Movement Archive gesammelt werden.
Einer Studie aus dem Archiv zufolge, reagieren Karibus und andere Arten in der kanadischen Arktis unterschiedlich auf Temperatur- und Niederschlagsschwankungen: So sind zum Beispiel Elche, Wölfe, Schwarzbären und Karibus allesamt im Winter weniger unterwegs als im Sommer. Schwarzbären und Wölfe wandern in warmen Sommern weniger umher, Elche dagegen sind dann besonders aktiv. Schnee bremst bis auf die Unterart Barrenground Karibus alle vier Arten, Regen im Sommer beeinflusst dagegen keine von ihnen.
Zerstörung des Lebensraums
Rentiere stehen weltweit unter Schutz, trotzdem geht ihre Zahl zurück. Während der Mensch die Tiere in den vergangenen Jahrhunderten vor allem durch die Jagd dezimierte, bedroht er wildlebende Rentiere heute vor allem durch die Erschließung und Zerstörung ihres Lebensraums. Förderstätten für Öl und andere Rohstoffe sowie Staudämme vernichten ihre Weideflächen, Straßen zerschneiden ihre Wanderrouten. Ein Beispiel ist der Bau des Kárahnjúkar-Staudamm im Osten Islands. Forschende untersuchen dort, welche Folgen die Vernichtung der Weiden durch den Stausee auf die lokale Rentierpopulation hat.
Hinzu kommen die Veränderungen durch den Klimawandel. Eine Studie zeigt, dass auch Rentiere seine Auswirkungen bereits spüren. Forschende haben die Bewegungsdaten von über 900 Karibus im Norden Kanadas analysiert und so herausgefunden, dass die nördlichen Herden immer zeitiger im Frühling gebären. Der Zeitraum der Geburten der südlicheren Populationen ist dagegen konstant geblieben.
Musterbeispiel für globale ökologische Kollaborationen
Das Arctic Animal Movement Archive soll Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen miteinander vernetzen und ihre Zusammenarbeit fördern. Forschende von hundert Universitäten, Regierungsbehörden, Naturschutzgruppen und auch Indigene aus 17 Ländern sind daran über die gesamte Arktis hinweg beteiligt. „Um Veränderungen im Verhalten und Lebensraum der Tiere in der Arktis festzustellen, müssen wir zusammenarbeiten, um Erkenntnisse über Jahrzehnte und Populationen hinweg zu gewinnen", sagt Sarah Davidson, Datenkuratorin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, die das von der NASA finanzierte globale Datenarchiv leitet.
Das Archiv enthält derzeit fast 300 Forschungsprojekte mit den Bewegungsdaten von mehr als 15.000 Meeres- und Landtieren von 1991 bis heute. „Das Arctic Animal Movement Archive stellt auch ein Musterbeispiel für globale ökologische Kollaborationen dar. Im Moment arbeiten Forschende unseres Instituts an globalen Konsortien für Tierbeobachtungen in „Drylands“ sowie im Süden Afrikas und auf Galapagos“, sagt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.